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KZ-Wachen am

Zigeunerlager

   SS-Wachmänner, sie bewachen das Zigeunerlager in Auschwitz, im KZ Auschwitz-Birkenau. Sie unterhalten sich über ihre Pflichten, Aktivitäten und Ansichten. Von ihren Wachtürmen aus haben sie das Lager, die dort inhaftierten Sinti und Roma mit ihren Familien, im Blick. Auf jeden Wachturm absolvieren zwei SS-Wachmänner ihren Dienst. In die Gespräche sind aktuelle Ereignisse der damaligen Zeit eingeblendet.

Aus der Wagenburg

   Wachmänner des »Zigeunerlagers« im KZ Auschwitz-Birkenau unterhalten sich während ihres Wachdienstes. Es sind jeweils andere Wachmänner und Wachdienstzeiten.

   Wache 1: »Ich hasse Zigeuner. Sie reisen durchs Land, klauen dir die Wäsche von der Wäscheleine. Sie klauen alles. Nichts ist vor ihnen sicher. Und jetzt? Ich bin hier und bewache das Zigeunerlager? Die im Lager können nichts mehr klauen.«

   Wache 2: »Sie klauen nicht …«

   Wache 1: »Richtig,sie klauen nicht nur Wäsche von der Wäscheleine, sondern auch kleine Kinder aus den Kinderwagen. Wäsche, um sie anzuziehen oder zu verkaufen, Kinder, die dann betteln gehen müssen. Und damit die Menschen mehr Mitleid haben, sie mehr geben, werden den Kindern die Augen ausgestochen. Ahja, sind sie gut drauf, dann sind sie auch als Brandstifter unterwegs, einfach so!«

   Wache 2: »So brutal sind sie nicht. Ich war in Ungarn, da habe ich einige kennengelernt, die waren ganz in Ordnung. Sie verstehen sehr viel von Pferden.«

   Wache 1: »Höre ich richtig, du nimmst diesen Abschaum, diese Vagabunden, Bastarde in Schutz? Nicht von ungefähr kommt es, dass Zigeuner ein Schimpfwort ist. Du Zigeuner heißt so viel wie, du elender, falscher Hund

   Wache 2: »Nein, ich nehme sie nicht in Schutz! Ich will dir nur sagen, nicht alle Zigeuner sind gleich. Da gibt es Unterschiede. Manche kennen sich sehr gut mit Heilkräutern aus, die dir helfen. Manche leben wie eh und je, sie ziehen mit ihren Wagen durchs Land. Doch die Mehrheit ist schon seit vielen Jahrzehnten sesshaft.«

 

Experten der Naturmedizin

   Aufgrund der angenommenen Naturverbundenheit glaubten etliche Menschen, dass »Zigeuner« über spezielle Kenntnisse in der Natur- und Heilmedizin verfügten. Angenommen wurden Kenntnisse, die über die Schulmedizin hinausreichten. Bei Straßenverkäufen, auf Jahrmärkten und bei Tür-zu-Tür-Verkäufen waren getrocknete Heilpflanzen, Kräuter und Tinkturen gefragt. Weitere wichtige Einnahmequellen: Verkauf von Tüchern, Kleidern, Teppichen, Bürsten, Geflechten (Körbe), Schnitzereien, Holzprodukten sowie das Betreiben von Jahrmarktbuden (Schießständen), Vorführen von artistischen Leistungen, Zaubertricks oder tierischen Darbietungen (»tanzender Bär«) und die Wahrsagerei. Darüber hinaus gehörten das Erledigen von Gelegenheitsarbeiten und Betteln dazu.

 

   Wache 1: »Sesshaft? Ich muss lachen! Die leben in Bruchbuden, Baracken, Gartenhäusern, in ihren abgestellten Wagen. Die Verschläge haben sie aus billigem Bauholz gebaut. Das ist kein Wohnen und Leben, das ist ein Vagabundieren. Für mich hat das nichts mit sesshaft zu tun. Das ist asozial, das ist ziemlich primitiv.«

   Wache 2: »In Villen leben sie meist nicht, richtig. Doch sie leben an einem Ort - fest.«

   Wache 1: »Die fahren immer noch durch die Gegend und verunsichern und erschrecken die Leute. Sie heißen doch das Landfahrervolk. Wenn jemand auf der Straße lebt, heißt es doch, der lebt wie ein Zigeuner

   Wache 2: »Dieses Bild hängt ihnen an, obwohl es schon seit Langem nicht mehr zutrifft. Genauso gibt es das Bild, dass das zigeunerhafte Herumreisen viel mit Romantik zu tun hat.«

   Wache 1: »Immer in der gleichen Kleidung, wochenlang sich nicht waschen, Abfälle essen – was ist daran romantisch? Von was redest du?«

   Wache 2: »Meine Eltern waren mit uns Kindern oft zelten. Draußen in der Natur nimmst die Aufgänge und Untergänge der Sonne, die Geräusche, vom Wind oder vom Bach verursacht, viel intensiver wahr. Das meine ich.«

   Wache 1: »Das kann ich erleben, als Deutscher. Ohne Angst zu haben, von denen im Wald oder an einem See überfallen und ausgeraubt zu werden. Meine Frau und meine Töchter brauchen sich nicht zu fürchten, von denen vergewaltigt zu werden. Sind sie weg, ist es bei uns sicherer und schöner. Sie sind eine minderwertige Rasse, die auf unsere Kosten lebt, unser Volk belastet, die wir bei uns nicht mehr dulden dürfen. In der Vergangenheit waren wir viel zu nachsichtig. Wir haben immer nur geredet und geredet, nichts gemacht. Das hat sich jetzt geändert. Zigeuner darf es bei uns nicht mehr geben. Deshalb bin ich hier und passe auf, dass niemand aus diesem Lager abhaut.«

   Wache 2: »Eine lange Rede. Ich glaube, vielen stört nicht die Armut, in der sie leben, und sie haben vor ihr auch keine Angst, es ist das Bild von deren Lebensweise. Das Umherziehen, das Leben im Wagen, in Wagenburgen. Diese Nomadenkultur ist vielen fremd und unverständlich.«

   Wache 1: »Von Kultur würde ich bei denen nicht sprechen. Das Klauen, das Betteln, die vielen Kinder, die Verschlagenheit, der Hokuspokus mit der Wahrsagerei. Die Zukunft aus der Hand, dem Kaffeesatz, aus Karten oder einer Glaskugel herauszulesen, das ist lachhaft. Das schreckt die anständigen Leute.«

   Wache 2: »Viele Menschen glauben an die Wahrsagerei der Zigeuner. Und weißt Du, warum? Die Zigeuner führen ein armeseliges Leben auf Wiesen und in Wäldern, das reicht bei vielen Menschen für den Glauben, dass sie seherische Kräfte haben.«

   Wache 1: »Das ist tatsächlich verrückt. Ich habe mir einmal aus einer spontanen Laune heraus von einer Zigeunerin die Zukunft aus dem Satz meiner Kaffeetasse lesen lassen. Bevor sie das tat, verlangte sie von mir ein Geld. Dann sagte sie lauter schöne Dinge - ich werde reich, ich werde durch die Welt reisen, ich werde eine schöne Frau und drei schöne Kinder haben, ich werde niemals Not leiden. Dabei lächelte sie, verschlagen und heimtückisch, ich sah ihre schlechten, dunkelbraunen Zähne. Wie kannst du solch einer Person glauben? Als sie nochmals ein Geld von mir wollte, habe ich sie davongejagt.«

 

Magie der Zukunft

   Trotz des schlechten Rufs der Sinti und Roma sowie der strikten Ablehnung der Wahrsagerei durch die katholische Kirche, ein Großteil der Deutschen sprach »Zigeunerinnen« die Fähigkeit zu, die Zukunft vorhersagen zu können. Als überzeugende Faktoren wurden deren einfache, naturverbundene Lebensweise und der Glaube, dass die Fähigkeit zur Wahrsagerei innerhalb dieses »Naturvolks« vererbt wird, angesehen. Gehofft wurde auf eine gute, passende Zukunft und auf Ratschläge, um etwaigen Unglücken entgehen zu können. Manchmal gefürchtet war die Flucht einer Zigeunerin oder eines Zigeuners, zum Beispiel aufgrund schlechter Behandlung, die Unheil versprach.

 

   Wache 2: »Ist etwas von dem, was sie Dir vorausgesagt hatte, eingetroffen?«

   Wache 1: »Nichts, überhaupt nichts! Meine Frau entpuppt sich mehr und mehr zu einem Drachen. Die Kinder akzeptieren mich erst, wenn ich zum Rohrstock greife. Vom Reichtum bin ich so weit entfernt, wie der Mond von der Erde.«

   Wache 2: »Das Schöne kann immer noch kommen.«

   Wache 1: »Glaubst Du noch an den Osterhasen?«

   Wache 2: »Nein, dennoch machen es manche den Zigeunern nach. Es sind nicht unbedingt die Dümmsten.«

   Wache 1: »Was nachmachen? Sie versuchen sich in der Wahrsagerei?«

   Wache 2: »Ich meine das Reisen. Sie besorgen sich einen Planwagen und ein oder zwei Pferde, die sie davor spannen, oder sie besorgen sich einen kleinen Lastwagen - und los geht es. Sie ziehen wie einst die Zigeuner durch die Lande.«

   Wache 1: »Das sind keine gesunde, pflichtbewusste, verantwortungsvolle Deutsche.«

   Wache 2: »Warum nicht?«

   Wache 1: »Sie übernehmen keine Verantwortung. Sie erfüllen keine Aufgaben und Pflichten für die Gesellschaft, ich meine für das Volk. Sie hauen immer wieder ab, heute da, morgen dort.«

   Wache 2: »So allgemein kannst Du das nicht sagen. Darunter sind auch Deutsche, sogenannte Naturfreunde. Es sind Deutsche aus allen Bevölkerungsschichten, habe ich gehört.«

   Wache 1: »Von was leben sie?«

   Wache 2: »Sie arbeiten mal hier, mal dort, als Taglöhner, Aushilfskräfte. Manche leben vom Malen, Schnitzen, Musizieren, vom Bücherschreiben. Ich habe in Ungarn einen Maler kennengelernt, ein Arier, der sagte mir, seit er umherreist, wirkt auf ihn eine neue Macht. Diese Macht hat nichts mit Befehlen und Gehorchen zu tun. Es ist die Macht der Gefühle.«

 

Romantik der Straße

   Besonders unter Künstlern und Aussteigern war das Reisen und Leben »wie die Zigeuner« gefragt. Sie fühlten sich als Lebenskünstler, frei von gesellschaftlichen Zwängen, zurück zur Einfachheit des Lebens und der Natur (gelebte Lagerfeuerromantik, Begriffe wie Bezeichnungen wie »Kulturzigeuner« und »Bohemiens« machen die Runde). Viele dieser »Zigeunerfreunde« konnten sich selbst finanzieren, mussten während ihrer Reisen nicht ihren täglichen Lebensunterhalt verdienen. Die Bezeichnung »zigeunerhaftes Leben« bezog sich auf die reisenden »Zigeuner«, die »Zigeunerfreunde« und die »Jenischen« (Mitglieder der sogenannten Armutsschicht, auch »weiße Zigeuner« genannt).

 

   Wache 1: »Er spinnt! Bei einer Frau denke ich an Gefühle. Ich gehorche gern den Befehlen unseres Führers. Der Mensch, unser Volk braucht einen Führer, der für Ordnung sorgt. Das ist so, das wird immer so sein.«

   Wache 2: »Er meinte die Freiheit, wie sie in dem deutschen Volkslied vorkommt: Lustig ist das Zigeunerleben

   Wache 1: »Ist das ein deutsches Volkslied? Ist es nicht ein Schmählied?«

   Wache 2: »Es ist ein deutsches Lied, das im Deutschen Volksliedarchiv als solches aufgeführt ist.«

   Wache 1: »Ein Lied über das Leben dieser Asozialen gehört zum deutschen Volksliedgut? Das ist schwer zu glauben. Gibt es in diesem Archiv auch ein Lied über das romantische Leben der Juden?«

   Wache 2: »Juden und Zigeuner sind zweierlei Paar Stiefel.«

 

Gesellschaftlicher Rand

   Die meisten Deutschen sahen bei »Zigeunern« das Herumziehen, den ständigen Ortswechsel, das Wohnen in Wagen oder in einfachen Baracken (sesshafte Sinti und Roma), das Leben in Großfamilien mit zahlreichen Kindern als Zeichen von »außerhalb der Gesellschaft stehend«. Zu dieser Einstufung gehörte die angenommene Selbstverständlichkeit, dass viele Zigeuner arm und auf die Fürsorge (staatliche Sozialleistungen) angewiesen sind.

 

   Wache 1: »Das stimmt! Juden sind intelligent, raffiniert und raffgierig. Sie schädigen das deutsche Volk, indem sie es aussaugen. Intelligent und raffiniert sind Zigeuner nicht. Sie sind dumm und primitiv. Die Juden sind gefährlicher. Sind wir mit den Juden fertig, kommen die Zigeuner dran.«

   Wache 2: »Sie sind jetzt schon dran, deshalb hier im KZ Auschwitz-Birkenau das Lager.«

   Wache 1: »Das sind längst noch nicht alle. Viele, viele laufen draußen noch frei herum. Warum ist das so? Die Juden erkennst du an der Religion und Beschneidung. Die Zigeuner haben keine eigene Religion, sie lassen sich auch nicht beschneiden. Zudem schmuggeln sie sich immer mehr in unser Volk ein, indem sie sich zum Schein anpassen. Es ist somit manchmal schwer, sie zu erkennen.«

   Wache 2: »Sie sind sesshaft und damit zugleich angepasster geworden, wie schon gesagt.«

   Wache 1: »Keine Angst, wie bei den Juden, wir werden alle ausfindig machen und unser Volk von ihnen erlösen.«