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Alles im Sippenarchiv

   Wachmänner des »Zigeunerlagers« im KZ Auschwitz-Birkenau unterhalten sich während ihres Wachdienstes. Es sind jeweils andere Wachmänner und Wachdienstzeiten.

   Wache 1: »Bei uns in München, in unserer Straße, betrieb eine Zigeunerfamilie einen Pferdehandel. Es war nicht zum Aushalten. Der Pferdehandel war ein internationaler Zigeunertreff. Sie kamen von überall her, schliefen in ihren Wagen, und als sie fortzogen, war die Straße vollgeschissen. Überall lagen Pferdeäpfel. Meine Großeltern und Eltern beschwerten sich bei der Polizei, mehr als einmal, immer wieder. Meine Mutter bot dem Polizeistellenleiter sogar an, dass sie tauschen mögen. Er soll mit seinen Leuten in unserer Wohnung das Polizeirevier einrichten, während wir ins alte Polizeirevier einziehen.«

   Wache 2: »Das hat er nicht gemacht, klar. Hat die Polizei überhaupt etwas unternommen?«

   Wache 1: »Es wurde besser, als die Polizei begann, die Personendaten der Zigeuner mitsamt Bande zu erfassen.«

   Wache 2: »Bande? Du meinst Familie.«

   Wache 1: »Deren Legitimationspapiere wurden genauestens nach Inhalt, Datum und Anfertigung kontrolliert. Genauestens überprüft wurde ebenso, woher die Zigeuner kamen, ob sie es schon einmal mit der Polizei wegen einer Straftat zu tun hatten, welche Pferde, Wagen und Wertsachen ihnen gehörten. Ich sage Dir, dabei wurden ganz viele Fälschungen und Ungereimtheiten entdeckt.«

   Wache 2: »Und?«

 

Münchner Zigeunerzentrale

   Die Polizeidirektion München gründete 1899 den »Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner«, die sogenannte Zigeunerzentrale. Deren Aufgabe war es, mit modernsten polizeilichen Mitteln gegen Sinti und Roma vorgehen zu können. Dazu gehörte eine zentrale Karteikartenstelle mit den Personalien von »Zigeunern und nach Zigeunerart umherziehenden Personen«. Während der Weimarer Republik wurde die Münchner Einrichtung von allen deutschen Ländern genutzt und mitfinanziert.

 

   Wache 1: »Die Fälschungen bezogen sich hauptsächlich auf die Staatsangehörigkeit. Es gab gefälschte deutsche Papiere, doch die Inhaber waren so wenig Deutsche wie wir Zigeuner sind. Die überprüften Zigeuner mit echten Papieren bekamen Sonderausweise. Wer keine echten Papiere oder Urkunden über die deutsche Reichsangehörigkeit nachweisen konnte, wurde für staatenlos erklärt.«

   Wache 2: »Ich meinte, wie ging es weiter bei Euch in der Straße? Wurde es ruhiger?«

   Wache 1: »Ja, danach verbesserte sich allmählich die Situation. Etliche Zigeuner wurden bis zur endgültigen Überprüfung festgesetzt, gegen Andere wurden polizeiliche Ermittlungen eröffnet, die meist mit einer Haftstrafe endeten. Die ganzen Überprüfungen waren den Herumtreibern sehr lästig, das merkte man. Zumal die Polizisten mit der Festsetzung ziemlich schnell bei der Hand waren. Irgendwann kapierten sie, dass sie in unserer Straße unerwünscht waren und kamen nicht mehr.«

   Wache 2: »Weißt Du warum die Polizei die Personendaten der Zigeuner aufgeschrieben hat? Weißt Du was mit den Daten passiert?«

 

»Schädlicher Fremdkörper«

   Alfred Dillmann, Leiter des »Nachrichtendienstes für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner«, erklärte 1905: »Das fahrende Volk der Zigeuner ist ein schädlicher Fremdkörper in der deutschen Kultur geblieben. Alle Versuche, die Zigeuner an die Scholle zu fesseln und an eine sesshafte Lebensweise zu gewöhnen, sind fehlgeschlagen. Auch drakonische Strafen konnten sie von ihrer unsteten Lebensführung und ihrem Hange zu unrechtmäßigem Vermögenserwerb nicht abbringen. Trotz vielfacher Vermischung sind ihre Abkömmlinge wieder Zigeuner geworden mit den gleichen Eigenschaften und Lebensgewohnheiten, die schon ihre Vorfahren besessen hatten.«

 

   Wache 1: »Äh? Nein?«

   Wache 2: »Sie kommen nach Berlin in ein zentrales Register. Dort werden alle Zigeunerdaten gespeichert. Greift eine Polizeistelle irgendwo in Deutschland einen Zigeuner auf, aus welchen Gründen auch immer, wird bei diesem Register nachgefragt, was er so alles auf dem Kerbholz hat. Wann er wegen was mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist.«

   Wache 1: »Das ist gut. Das ist moderne Polizeiarbeit.«

   Wache 2: »Das ist aber noch nicht alles. Ludwig Würth, ein in Stuttgart bekannter Zigeunerrassenforscher und ein Verwandter von mir, hat für die Stuttgarter Kriminalpolizei Zigeunerakten angelegt, die sogar in Berlin gelobt wurden. Und warum? Er hat für seine Akten die Daten in Kirchenämtern ausgewertet. Viele Kirchen führen Familienregister auch für Nichtsesshafte. Das hat er für seine Akten genutzt.«

   Wache 1: »Auf diese Idee sind die in Berlin nicht gekommen? Das erstaunt mich aber.«

   Wache 2: »In Berlin werden jetzt die Daten von der Rassenhygienischen Forschungsstelle mit den kriminalistischen Daten verbunden. Dadurch sollen auch Vorhersagen möglich sein. Wann ein Zigeuner ein Verbrechen verüben möchte.«

   Wache 1: »Das glaubst Du doch selbst nicht!«

 

»Spitze der Zigeunerbekämpfung«

   Hermann Aichele, Verwaltungsbeamter und engagierter Bekämpfer des »Zigeunerunwesens«, sagte 1911: »Bayern marschiert an der Spitze der Zigeunerbekämpfung. Die dem Erkennungsdienste der Polizeidirektion München angegliederte Zigeunerzentrale dient aufgrund des bei ihr gesammelten Materials als Auskunftsbehörde und gibt den signalisierenden oder anfragenden Behörden alles Wissenswerte über Heimat usw. der betreffenden Zigeuner, über anhängliche strafrechtliche Untersuchungen, bestehende Aufenthaltsverbote, etwa veranlasstes polizeiliches Einschreiten usw. bekannt.«

 

   Wache 2: »Es geht um eine Annäherung. Mit den Daten kannst Du annähernd vorhersagen, ob ein Zigeuner in nächster Zeit eine Straftat begehen wird.«

   Wache 1: »Klingt immer noch ziemlich verrückt. Aber es wäre toll, wenn so etwas klappen würde. Das wäre ein Traum für jeden Polizisten.«

   Wache 2: »Mein Verwandter Ludwig Würth hat mitgeholfen, dass heute nicht nur die Daten der Kriminalpolizei, der Rassenhygienischen Forschungsstelle und der Kirchen miteinander kombiniert werden, sondern auch die Daten von allen kommunalen Behörden, insbesondere von den Sozialstellen. Also die Stellen, die für die Fürsorge zuständig sind. Bekanntermaßen erhalten viele Zigeuner ab und zu Unterstützung von der öffentlichen Fürsorge.«

   Wache 1: »Ab und zu? Immer! Sie erhalten immer eine Fürsorge und immer eine viel zu hohe.«

   Wache 2: »Zigeunersippenarchiv, so heißt die zentrale Erfassungsstelle in Berlin. In ihr ist alles dokumentiert. Sie informiert auch, wer ein Zigeuner, ein Zigeunermischling und eine Person ist, die nach Zigeunerart umherzieht. Noch dauert es eine Weile, bis alle erfasst sind, alle mit verseuchtem Zigeunerblut. Für die Verseuchung reicht übrigens schon ein Blutstropfen.«

 

150 Sonderverordnungen

   Von 1900 bis 1933 wurden 150 Sonderverordnungen gegen »Zigeuner« erlassen. Ab 14. April 1911 waren von allen Sinti und Roma Fingerabdrücke zu nehmen, ab 21. April 1913 mussten die Standesämter alle Geburten, Heiraten und Todesfälle von Sinti und Roma melden. 1925 gab es in der Münchner Zentrale Akten zu 14000 »Zigeunerpersonen und Zigeunerfamilien« aus ganz Deutschland. Die Nationalsozialisten verlagerten die bayrische Zentrale nach Berlin und nannte sie »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens«. Sie war dem »Reichskriminalpolizeiamt« und dessen »Rassenhygienische Forschungsstelle (RHF)« angegliedert. 1938 waren über 17000 Akten angelegt, mit zirka 31000 registrierten Sinti und Roma. Am 27. September 1939 wurde das Reichskriminalpolizeiamt neu strukturiert, die Maßnahmen gegen Sinti und Roma besser koordiniert und verschärft. Es gab 21 Zigeunerpolizei-Leitstellen, zum Beispiel in Prag, Wien, München und Hamburg. Ihnen waren im jeweiligen Einzugsgebiet die örtlichen Zigeunerpolizei-Leitstellen untergeordnet.

 

   Wache 1: »Recht so! Wenn ich richtig kombiniere, werden mit dem Sippenarchiv zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die erste Fliege, wirksame Maßnahmen zur Verhinderung entarteten Nachwuchses können schnell und personengenau umgesetzt werden. Möglich sind die Zwangsterilisation, die Inhaftierung, die Tötung. Die zweite Fliege, die kriminelle Energie von Zigeunern wird unterbunden, durch Inhaftierung oder Tötung.«

   Wache 2: »Das dürfte nicht falsch sein, mein Kompliment.«

   Wache 1: »Ich verfüge über eine analytische Denkweise.«

   Wache 2: »Glaube ich! Das Sippenarchiv kannst Du aber auch nutzen für Anordnungen zu Schwangerschaftsabbrüchen, zur Aberkennung gesellschaftlicher Rechte, für die Festsetzung der Vorsorgehaft, der Zwangsarbeit, die Einweisung in ein Konzentrationslager. Kurzum, das Archiv können alle Behörden, Ämter, Dienststellen, Fürsorgeeinrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Ärzte, Krankenhäuser, parteiliche Einrichtungen bis runter auf die lokale Ebene nutzen.«

   Wache 1: »Das habe ich schon erkannt. Eine tolle Sache.«

   Wache 2: »Es ist auch eine sehr gut Hilfe für Standesämter. Oft ist es ja so, dass den Standesämtern keine wirklich aussagekräftigen Rassegutachten vorliegen. Sie schließen Ehen und sorgen unabsichtlich dafür, dass Deutsche mit Zigeunern vereint werden. Um das zu vermeiden, können sich alle Standesämter an das Sippenarchiv wenden. Ich meine, an die Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens, dort wird das Archiv verwaltet. Wer anfragt, erhält schnell eine Auskunft.«

   Wache 1: »Ich sehe, mit dieser Zentralstelle wird eine deutsche Braut vor der Dummheit bewahrt, einen verkleideten Zigeuner zu heiraten und eines Tages als Mutter von Bastarden aufzuwachen.«

   Wache 2: »Ja, so kannst Du es sagen. Doch es wird auch schon vorher eingegriffen. Durch Anordnung von Vorbeugungshaft setzt die Kriminalpolizei die Trennung von Liebesbeziehungen zwischen Deutschblütigen und Zigeunern durch. Zur Sicherheit werden in solchen Fällen Sterilisationen an Zigeunern durchgeführt.«

   Wache 1: »Ja, ja, wenn alle registriert sind, können sie besser verfolgt werden, das ist doch klar.«

 

Personaldaten für Repressalien

   Die Außenstellen oder regionalen Akteure der zigeunerbezogenen Einrichtungen des »Reichskriminalpolizeiamtes« (die »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerwesens« und die RHF)waren die örtlichen Kriminalpolizeiämter. In diesen wurden »Dienststellen für Zigeunerfragen« eingerichtet. Diese Dienststellen sowie die Kriminalpolizei insgesamt arbeiteten eng mit der RHF zusammen. Die Abgleichung der RHF-Gutachten und der polizeilich erfassten Personaldaten und Familienzusammenhängen (ergänzt durch Informationen beispielsweise aus kirchlichen Archiven) bildeten die Grundlage für die Erstellung von Transportlisten für Deportationen oder für Anordnungen zur Zwangssterilisierung.

 

   Wache 2: »Verfolgt werden?«

   Wache 1: »Mann! Hat die Kriminalpolizei einen Verdacht, kann der Verdächtige, der abgehauen ist, schneller und gezielter verfolgt werden. Er wird zur Fahndung ausgeschrieben und gesucht beziehungsweise verfolgt. In der Zigeunerdatenbank sind seine Personendaten doch registriert, damit liegt es auf der Hand, so gründlich sind wir Nationalsozialisten, dass auch alle Familienmitglieder und Freunde dort festgehalten sind. Und an welchen Orten sich der Verdächtige in der Vergangenheit öfters aufgehalten hat. Auf jeden Fall, die Kriminalpolizei weiß genau, wo sie ihn suchen muss.«

   Wache 2: »Ich weiß nicht, ob auch die Freunde eines Zigeuners in dem Sippenarchiv notiert sind. Es ist ja ein Sippen- oder Familienarchiv. Freunde da reinzuschreiben, das dürfte schwierig sein, zumal sich Freundschaften immer wieder ändern. Das ist bei uns so, das ist auch bei den Zigeunern sicherlich so.«

   Wache 1: »Ich bin überzeugt, wenn die Familienmitglieder unserer tüchtigen Kriminalpolizei bekannt sind, dass das für den Fahndungserfolg reicht. Was meinst du, wie viele Kriminelle, die von der Kriminalpolizei geschnappt wurden, sind in unserem Lager?«

   Wache 2: »Nicht wenige! Doch erinnere dich, unten im Lager sind sie vor allem deshalb, weil sie Zigeuner sind und sich nicht mit unserer Rasse vermischen sollen. Sie schädigen unsere Rasse. Das Kriminalistische steht an zweiter Stelle.«

   Wache 1: »Das hängt doch zusammen, das ist untrennbar miteinander verbunden.«

   Wache 2: »Natürlich!«