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                                  START         Jo Specht                                                                             

Keine Nachkommen

   Wachmänner des »Zigeunerlagers« im KZ Auschwitz-Birkenau unterhalten sich während ihres Wachdienstes. Es sind jeweils andere Wachmänner und Wachdienstzeiten.

   Wache 1: »Sterilisation, das ist eine sehr gute Sache. In ein paar Jahren hast Du keine Probleme mehr - alle sind weg, ausgestorben. Keine Zigeuner mehr auf dieser Erde. Ein natürlicher Prozess, Du ersparst Dir jede Menge Ärger.«

   Wache 2: »Also nur die Frauen!«

   Wache 1: »Zuerst, ja! Doch Du musst auch Männer kappen, kastrieren. Die Frauen sterilisieren, die Männer kastrieren, so heißt es doch? Du musst so viele Zigeuner wie möglich unfruchtbar machen, Frauen und Männer. Du kriegst nie alle Frauen, doch wenn Du auch Männer unfruchtbar machst, ist der Erfolg größer. Im Prinzip reicht es schon, wenn Du nur eine Seite unfruchtbar machst, doch sicher ist sicher.«

   Wache 2: »Frauen werden sterilisiert, Männer kastriert.«

   Wache 1: »Hauptsache sie können keinen Nachwuchs mehr haben. Wir können das hier im Lager machen. Ein Zigeuner kommt mit seiner Männlichkeit rein und ohne sie geht er wieder raus.«

   Wache 2: »Aha, so einfach?«

   Wache 1: »Eine Frau geht mit Eierstöcken ins Lager rein und ohne sie wieder raus.«

   Wache 2: »Bei Frauen geht das einfacher, glaube ich. Ein Arzt bin ich nicht, aber ich habe gehört, dass ein kleiner Schnitt reicht. Kein Organ, die Eierstöcke oder die Gebärmutter, muss entfernt werden.«

 

Den »Erbstrom« beenden

   Paul Werner, Leiter der Amtsgruppe Kriminalpolitik und Vorbeugung im Reichssicherheitshauptamt, setzte sich für die Unfruchtbarkeitmachung in »Zigeunerfamilien« ein, um die Jugendkriminalität zu bekämpfen. Er war überzeugt, dass aus »Zigeunerfamilien« beziehungsweise »kriminellen Sippen« straffällig werdende Jugendliche hervorgehen. Er fordert 1937, dass in diesen Sippen der »Erbstrom« beendet wird.

 

   Wache 1: »Umso besser, dann geht es einfacher und schneller. Doch bezieht sich das mit dem Schnitt nicht auf Männer? Ein Schnitt und die Samenstränge sind durchtrennt?«

   Wache 2: »Ich habe mir sagen lassen, dass das nicht so einfach ist. Durchtrennte Samenstränge kannst du wohl wieder verbinden. Und angeblich soll diese Methode nicht wirklich sicher sein.«

   Wache 1: »Was soll da nicht sicher sein? Wenn Du ein Stromkabel kappst, dann fließt durch dieses Kabel kein Strom mehr - Ende!«

   Wache 2: »Ich denke, Du stellst Dir das zu einfach vor. Unser Führer hätte schon längst einen Befehl gegeben, wenn es so einfach wäre. Was ist mit den Kindern? Und mit den erwachsenen Zigeunern? Sie werden sich nicht freiwillig unfruchtbar machen lassen! Sie hauen ab, verstecken sich, sie sabotieren und kämpfen!«

   Wache 1: »Zigeuner und kämpfen? Das gibt es nicht! Beim ersten Schuss hauen sie ab!«

   Wache 2: »Ich bin mir da nicht so sicher.«

   Wache 1: »Wir werden sie schon erwischen. Ob sie wollen oder nicht, wir werden sie erwischen und dann ...«

   Wache 2: »Und die Kinder?«

   Wache 1: »Das klappt schon! Sie müssen erst einmal hier ins Lager kommen!«

   Wache 2: »Rassenforscher, Polizisten, Bürgermeister, Behördenmitarbeiter, viele, viele Deutsche sind für die Unfruchtbarkeitsmachung der Zigeuner.«

   Wache 1: »Ich weiß, das hörst und liest Du überall. Was mich dabei verwundert, da ist immer nur von der Sterilisation die Rede.«

 

Minderwertiges Erbgut

   Laut der Rassenforscherin Eva Justin sickerte mit Sinti und Roma »minderwertiges Erbgut in den deutschen Volkskörper« ein. Sie trat für die Zwangssterilisation von Sinti- und Roma-Frauen ein. Justin: »Das deutsche Volk braucht zuverlässige und strebsame Menschen und nicht den zahlreichen Nachwuchs dieser unmündigen Primitiven.«

 

   Wache 2: »Damit ist auch die Kastration gemeint. In dem Konzentrationslager, in dem ich zuvor Wachdienst hatte, werden Versuche gemacht, wie Männer mit Tabletten unfruchtbar gemacht werden können. Auch mit Spritzen wird das versucht. Mit Spritzen direkt in den Penis oder in die Hoden.«

   Wache 1: »Oh Mann, die Vorstellung ist grässlich! Da krieg ich gerad eine Gänsehaut. Aber für uns Deutsche gilt das ja nicht. Die Zigeuner hätten sich andere Eltern aussuchen sollen.«

   Wache 2: »Du meinst, sie wollten Zigeuner sein? Sie haben einen Einfluss darauf gehabt? Sie haben sich alles von oben, vom Himmel oder vom All aus ausgesucht? Ist das Dein Ernst?«

   Wache 1: »Ein Spaß! Das ist nur ein Spaß! Natürlich glaube ich das nicht! Aber da gibt es Leute, die glauben das. Sie sagen, unsere Seelen sind irgendwo im All, schauen auf die Erde und suchen sich von dort oben ein Leben aus, das sie leben möchten. Sie suchen sich die Eltern, die Geschwister und so weiter selbst aus. Wenn das stimmt, dann sind die Zigeuner selbst schuld, dass sie Zigeuner sind.«

   Wache 2: »Ich weiß, wovon Du sprichst. Ich glaube, dass an dieser ganzen Sache etwas Wahres, ein kleines bisschen, dran ist.«

 

Gesetz gegen Fortpflanzung

   Fritz Lenz, ab Mai 1933 war er Mitglied im »Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik beim Reichsinnenminister«. Der Sachverständigenbeirat war an der Formulierung des »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1934 beteiligt, das Zwangssterilisationen von »Erbkranken« vorsah. Zu den »Erbkranken« zählten neben »Zigeuner« auch Geisteskranke, Kriminelle, Prostituierte. Die meisten Zwangssterilisationen wurden an Sinti und Roma durchgeführt. Die Zwangssterilisation erfolgte meist mit der Diagnose »angeborener Schwachsinn«. 1935 sorgten ergänzende Gesetze (»Ehegesundheitsgesetz« und »Blutschutzgesetz«) für Ehe- und Fortpflanzungsbeschränkungen. Verboten waren Eheschließungen zwischen »Deutschblütigen und Zigeunern«.

 

   Wache 1: »Was?«

   Wache 2: »Ich sagte ein kleines bisschen. Nachprüfen können wir es sowieso nicht. Die Leute, von denen Du sprichst, glauben an die Wiedergeburt auf der Erde. Sie glauben, wir werden immer wieder neu geboren, um die Aufgaben, die aus dem vorherigen Leben übrig geblieben sind, zu erledigen. Jede Seele eines Menschen war schon mehrmals auf der Erde. Jeder Besuch auf der Erde ist mit Aufgaben verbunden, die erledigt werden müssen.«

   Wache 1: »Meine Aufgabe ist, das Lager hier zu bewachen.«

   Wache 2: »Diese Leute sagen, dass wir Menschen selbst nicht wissen, höchstens erahnen können, welche Aufgaben wir erfüllen müssen.«

   Wache 1: »Das ist an Klarheit nicht zu übertreffen.«

   Wache 2: »Unerfüllte Aufgaben treiben unsere Seelen dazu, immer wieder auf die Erde zu kommen.«

   Wache 1: »Und wenn die Aufgaben erfüllt sind?«

   Wache 2: »Es sind Aufgaben, für deren Lösung Du mehrere Leben brauchst, manchmal sehr viele Leben.«

 

Kein Nachwuchs möglich

   Paul Prison, seine Familie und er lebten »nach Zigeunerart umherziehend«. Er besuchte keine Schule, war Analphabet und arbeitete als Korbflechter. 1936 verhaftete die Kriminalpolizei in Krefeld ihn und ließ ihn entsprechend dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisieren.

   Georg Reinhardt und seine älteste Tochter Anna, 17 Jahre, wurden 1944 in Singen vom Chefarzt des Krankenhauses entsprechend dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zwangssterilisiert.

 

   Wache 1: »Es gibt also unterschiedlich große oder schwere Aufgaben. Ich würde mir die Leichtesten aussuchen.«

   Wache 2: »Du redest aus der Sicht eines Menschen. Unsere Seelen sind Seelen, die denken anders.«

   Wache 1: »Weißt Du beziehungsweise wissen diese Spinner auch, wie sie denken? Haben die eine direkte Verbindung ins All?«

   Wache 2: »Sie sprechen nicht vom All, auch nicht vom Himmel. Sie sprechen vom Jenseits. Diesseits ist die Erde, sind wir, jenseits ist das Jenseits.«

   Wache 1: »Wie schon gesagt, an Klarheit ist das nicht zu übertreffen.«

   Wache 2: »Klarer geht es nicht. Du musst glauben, ein exaktes Wissen gibt es nicht. Es ist wie bei der Religion, Jesus hat Wasser zu Wein verwandelt, hat Gelähmte wieder geheilt, ist gekreuzigt worden und nicht gestorben, sondern in den Himmel aufgefahren. Das musst du glauben. Nachprüfbar ist das nicht.«

   Wache 1: »Das stimmt! Ich glaube das alles nicht! Diese Leute, die an die freiwillige Wiedergeburt eines Zigeuners glauben, sind das nur Spinner oder sind die auch religiös, sozusagen religiöse Spinner?«

   Wache 2: »Sowohl als auch. Die katholische Kirche geht ja auch von einem Leben nach dem Tod aus. Christen und Nichtchristen und Menschen anderer Religionen glauben an die Unsterblichkeit, an das ewige Leben der Seele. Manche verbinden das auch mit der Wiedergeburt.«

   Wache 1: »Was ist, wenn alle Aufgaben erledigt sind? Eine Seele durch mehrere Wiedergeburten es endlich geschafft hat, alle Aufgaben zu erledigen?«

   Wache 2: »So wie ich es weiß, ist das nicht möglich. Aus den jeweiligen Aufgaben und dem jeweilen Leben entstehen neue Aufgaben. Oft wäre es auch so, dass die vorhandenen Aufgaben Du nicht innerhalb eines Lebens lösen kannst, dazu brauchst Du mehrere Leben.«

   Wache 1: »Und dann kommen noch neue, zusätzliche Aufgaben obendrauf?«

   Wache 2: »So ist der Kreislauf.«

   Wache 1: »Es gibt so viele Seelen wie es Menschen gibt, richtig?«

   Wache 2: »Wahrscheinlich.«

   Wache 1: »Doch die Menschheit wächst, es gibt immer mehr Menschen in den Städten, in den Ländern, auf der Erde. Von wo kommen da die Seelen her? Es muss dann doch auch immer wieder neue Seelen geben?«

 

Zigeuneranteil im Blut

   1944, nach den großen Deportationen von Sinti und Roma, vor allem nach Auschwitz, konzentrierte die Kriminalpolizei sich auf die in sogenannten Mischehen oder Mischfamilien lebenden »Zigeuner« und deren Kinder (»Zigeunermischlinge«). Sie wurden ebenfalls deportiert oder zwangssterilisiert. Die von den Nationalsozialisten geplante vollständige Durchsetzung der Sterilisierung von »Zigeunern« (wer aufgrund der Erbfolge auch nur einen minimalen »Zigeuneranteil im Blut« hatte, galt als »Zigeuner«) scheiterte an der kriegsbedingten Desorganisation und am Widerstand Betroffener.

 

   Wache 2: »Niemals haben alle Menschen, die bisher auf der Erde gelebt haben, zu einem Zeitpunkt gleichzeitig auf der Erde gelebt, sondern immer versetzt, jeder Mensch eben ein Menschenleben lang. Jeder Mensch stirbt nach einigen Jahrzehnten. Im Laufe von Millionen von Jahren hat sich somit eine große Anzahl an Seelen angesammelt. Verstanden?«

   Wache 1: »Nein!«

   Wache 2: »Es ist wie bei einem Friedhof. Die Toten werden auf ihm begraben, im Laufe der Zeit reicht die Größe des Friedhofs nicht mehr aus. Wir haben zwei Möglichkeiten. Der Friedhof wird vergrößert oder Gräber werden aufgelöst, um Platz für die frisch Verstorbenen zu haben. Im Jenseits wird sozusagen der Friedhof beziehungsweise der Raum für die Seelen vergrößert, die Auflösung von Seelen ist nicht möglich, da sie unsterblich beziehungsweise unauflösbar sind. Jetzt alles klar?«

   Wache 1: »So ungefähr. Doch was ist, wenn es keine Menschen mehr gibt?«

   Wache 2: »Wie meinst Du das?«

   Wache 1: »Ich meine Zigeuner. Wir machen sie unfruchtbar, es gibt keine Nachkommen und weg sind sie. Eine Zigeunerseele, die wieder auf die Erde kommen will, weil sie noch Aufgaben, was für Aufgaben das auch sein mögen, zu erledigen hat, schaut in die Röhre. Es gibt keine Zigeuner mehr. Diese Zigeunerseele bleibt ewig im Jenseits, dort ewig eine Seele, oder?«

   Wache 2: »Die Seele könnte sich einen anderen Körper, einen anderen menschlichen Körper aussuchen.«

   Wache 1: »Den Körper eines Ariers, he? Jetzt wird es aber noch lächerlicher.«