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Musik der Zigeuner

   Wachmänner des »Zigeunerlagers« im KZ Auschwitz-Birkenau unterhalten sich während ihres Wachdienstes. Es sind jeweils andere Wachmänner und Wachdienstzeiten.

   Wache 1: »Stimmt es, Du findest diese grässliche Zigeunermusik gut? Unter Musik verstehe ich etwas Anderes, eben Musik. Ich liebe Märsche.«

   Wache 2: »Es gibt nicht die Zigeunermusik! Ich liebe die ungarische Musik, die manchmal als Zigeunermusik bezeichnet wird. Über meine Mutter habe ich die Musik schon als kleiner Junge kennengelernt.«

   Wache 1: »Ist deine Mutter eine Ungarin, vielleicht sogar … ich dachte, du bist ein Arier?«

   Wache 2: »Ich bin ein Arier, da kannst Du nichts abwaschen! Meine Mutter liebte die ungarische Musik und auch die Lieder zu der Musik. Das hat sie mir vermacht.«

   Wache 1: »Wie kann man so etwas vererben? Ich kenne nur ein Lied gegen die Zigeuner. Es ist eine Warnung.«

   Wache 2: »Von welchem Lied redest Du?«

   Wache 1: »Ich glaube, es geht so: O habet acht, habet acht vor den Kindern der Nacht. Wenn von Zigeunern ihr hört, wo Zigeunerinnen sind, Mann, gib acht auf dein Pferd, Weib, gib acht auf dein Kind.«

   Wache 2: »Das ist aus dem Zigeunerbaron, eine Strauß-Operette. Da aus dem Lied So elend und so treu. Im dem Lied heißt es am Schluss Hält der Zigeuner dich nur wert, dann gehorcht er dir blind. Mann vertrau ihm dein Pferd. Weib vertrau ihm dein Kind. Das Lied ist nicht wirklich gegen Zigeuner gerichtet, wie der Schluss zeigt.«

   Wache 1: »Diese Strophe für die Zigeuner kenne ich nicht. Von der haben sie im Radio nichts gesagt. Doch an dem Kinderklau muss etwas dran sein. Wurde nicht auch schon in der Geschichte Der Glöckner von Notre-Dame die schöne Esmeralda als kleines Kind von Zigeunern gestohlen?«

   Wache 2: »Das weiß ich nicht. Diese Geschichte kenne ich nicht. Mir fällt aber auf, dass Du Dir nur zigeunerfeindliche Passagen merkst.«

   Wache 1: »Was willst Du damit sagen? Ich bin nicht ungerecht. Andere haben das veröffentlicht. Überhaut, wir sitzen hier und bewachen Zigeuner, diese Untermenschen und Parasiten.«

 

Zigeunermusik seit 1489

   Der Einfluss der Roma auf die Musik in Ungarn war so groß, dass die ungarische Volksmusik lange Zeit mit Zigeunermusik gleichgesetzt wurde. Dokumentiert ist, dass 1489 Kaiser Matthias Corvinus, der auch König von Ungarn war, während seiner Hochzeit mit Beatrice von Aragon viele Zigeunermusiker, sie standen in seinen Diensten, aufspielen ließ. Schon damals kam das Cymbal zum Einsatz – eine Art Hackbrett mit Saiten, die mit der Hand oder einem Stift zum Klingen gebracht werden.

 

   Wache 2: »Es ist immer besser, das Original in voller Länge zu kennen. Im Radio bringen sie immer nur Ausschnitte. Alles Andere würde zu viel Sendezeit in Anspruch nehmen. Die ungarische Musik ist eine gemischte Musik, sie ist nicht nur von Zigeunern beeinflusst. Da mischen auch viele reinrassige Österreicher mit.«

   Wache 1: »Ich dachte schon, Du bist plötzlich ein Zigeunerfreund geworden.«

   Wache 2: »Ich kann deren Musik, genauer gesagt, deren Einfluss auf die Musik in Ungarn, etwas abgewinnen.«

   Wache 1: »Wegen der Mutter, ich weiß. Wie kam sie eigentlich dazu, so einen Geschmack zu entwickeln?«

   Wache 2: »Frage Millionen von Deutschen, Österreichern und Ungarn, warum sie die Musik entlang der Donau schön finden. Das ist Geschmackssache.«

   Wache 1: »Zigeunermusik ist Donaumusik, das ist mir neu. Ich muss sagen, Du kennst dich in der Operetten-Szene sehr gut aus.«

 

Ungarische Zigeunermusik

   Kaiserin Maria-Theresia (Herrscherin über Österreich, Ungarn mit Kroatien und Böhmen; 1717 - 80) bewunderte den Cymbalisten Simon Banyak so sehr, dass sie ihm ein Instrument aus Kristall schenkte. Sie erließ ein Dekret, das den Zigeunern gestattete, bei Hochzeiten und anderen Festen zu musizieren. Dies förderte die Verflechtung der ungarischen Musik mit der Zigeunermusik. Zu dieser Verflechtung gehört auch, dass die Musik der Dörfer in die Städte und die Musik der Städte in die Dörfer kam. Bis heute ist unklar, wo die Grenze zwischen ungarischer Musik und Zigeunermusik verläuft und wodurch sie sich unterscheiden.

 

   Wache 2: »Mit meiner Mutter habe ich einige Operetten und Opern gesehen. Sie hat mir alles erklärt. Oft haben wir über Operetten und Opern gesprochen. Sie hat mir hier die Tür geöffnet. Mein Vater nicht, der ist im Weltkrieg gefallen.«

   Wache 1: »Das ist tragisch, das tut mir leid. Es ist vielen Familien so ergangen, leider. Ich hatte Glück, mein Vater kam aus dem Krieg zurück.«

   Wache 2: »Ich kann Dir sagen, es gibt keine typische Zigeunermusik. Sie haben ihre Musik jeweils dem Land angepasst, in dem sie sich aufhielten. Sie haben ihre Musik mit der Musik und den Menschen in einem Land vermischt. Einige Länder haben diese Vermischung akzeptiert, wie Ungarn oder die Türkei. Daraus sind besondere Stilrichtungen entstanden. So gibt es von Zigeunern beeinflusste ungarische Volksmelodien sowie türkische Volksmelodien.«

   Wache 1: »Mit gefällt die ungarische Musik gut. Die ungarische Zigeunermusik überhaupt nicht.«

   Wache 2: »Warum? Weil in der Bezeichnung Ungarische Musik das Wort Zigeuner nicht vorkommt?«

   Wache 1: »Willst du mich provozieren?«

   Wache 2: »Entschuldigung, war nicht so gemeint! Ich will sagen, das lässt sich nicht mehr trennen. Die Musik der Ungarn und die Musik der Zigeuner haben sich untrennbar vermischt.«

 

Europaweite Zigeunermusik

   János Bihari (1764 - 1827) gründete mit 18 Jahren eine Zigeunerkapelle, mit der er ganz Europa bereiste. 1814 spielte er vor dem Wiener Kongress. Während der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1867 - 1918) spielten viele Zigeunerkapellen in Konzertsälen, Cafés und Wirtshäusern. Zur typischen Besetzung so einer Kapelle gehörten: Geige, Bratsche, Kontrabass und Cymbal. In Wirtshäusern entstand der Csárdás (Wirtshaustanz), der ungarische Nationaltanz.

 

   Wache 1: »Aha.«

   Wache 2: »Meine Mutter und ich liebten das Temperamentvolle in der Musik. Das stürmische Auf und Ab, dazwischen schön-traurige, fast herzzerreißende Passagen – Geige, vor allem mit der Geige gespielt. Das alles verursachte eine ganz besondere, feurige und zugleich besinnliche Stimmung. Du fühlst Dich mitgenommen in eine andere Welt.«

   Wache 1: »Ja?«

   Wache 2: »Hauptsächlich durch die Geiger! Stolz, aufrecht, erhaben stehen sie da und spielen, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, die Geiger spielen mit einem Zauberstab auf den Saiten ihres Lebens.«

   Wache 1: »Ja?«

   Wache 2: »Ich würde sehr viel dafür geben, zusammen mit meiner Mutter noch einmal Musik aus Ungarn hören zu können.«

   Wache 1: »Was ist passiert?«

   Wache 1: »Sie hat es nicht mehr rechtzeitig in einen Luftschutzkeller geschafft. Eine feindliche Luftbombe hat sie getötet.«

   Wache 1: »Mein Beileid! Hast du noch Geschwister?«

   Wache 2: »Nein, keine Geschwister.«

   Wache 1: »Du sagst alles so, als ob alle Zigeuner stolze Musiker wären.«

   Wache 2: »Ungarische Geiger!«

   Wache 1: Ich möchte sagen, dass ich schon viele Zigeuner gesehen habe, die saßen auf dem Gehsteig, sie sahen ziemlich armselig aus, weit entfernt von einem stolzen Musiker. Weit entfernt von so einem Musiker, wie du ihn gerade beschrieben hast. Sie saßen da, spielten irgendetwas auf ihrer Geige und bettelten.«

 

Kunstvolle Zigeunermusik

   Der Komponist Joseph Haydn (1732 - 1809), der etliche Jahre Kapellmeister der Fürsten Eszterhazy in Eisenstadt war, arbeitete mit Roma-Musikern in seinem Orchester. Von der ungarischen Zigeunermusik inspiriert wurden Franz Liszt (Ungarische Rhapsodien, 1846; ein Buch über die Zigeunermusik veröffentlichte er 1859), Johannes Brahms (Ungarische Tänze, 1869), Johann Strauß Sohn (Die Fledermaus, 1874; Der Zigeunerbaron, 1885), Vittorio Monti (Csárdás, 1904). Franz Lehár (Zigeunerliebe, 1910), Emmerich Kálmáns (Gräfin Mariza, 1924).

 

   Wache 2: »Nicht alle wachsen mit der Musik auf. In manchen Familien ist Musik ganz wichtig, in anderen nicht. Wer mit der Musik aufgewachsen ist, kann mit der Musik seinen Lebensunterhalt verdienen. Die anderen Zigeuner, die nicht musikbegabt sind, machen meist etwas Anderes. Sie stellen zum Beispiel Bürsten und Körbe her, die sie verkaufen.«

   Wache 1: »Oder sie betteln.«

   Wache 2: »Meine Mutter hat mir einmal erzählt, wie die Geige erschaffen wurde. Willst du die Geschichte hören?«

   Wache 1: »Ich hoffe nicht, dass Zigeuner sie erschaffen haben.«

   Wache 2: »Eine Fee versprach einem armen, kinderlosen Zigeunerpaar, dass sie bald Eltern eines Sohnes sein werden. Und so kam es. Als aus dem Sohn ein junger Mann war, zog es ihn raus in die weite Welt. In einem Königreich verliebte er sich in die Königstochter. Der König versprach sie ihm, wenn er etwas Außergewöhnliches zustande bringen würde. Das schaffte er nicht, deshalb wurde er eingekerkert. Im Kerker erschien ihm die Fee. Sie gab ihm eine kleine Kiste, ein Stäbchen und einige Haare von ihr und sagte, dass er mit dem Stäbchen über ihre Haare auf der Kiste streichen soll und er werde die Menschen mit den Tönen froh und traurig, lachend und weinend machen können. Sogleich bat er um einen Termin beim König. Als er mit dem Stäbchen über das Feenhaar auf der kleinen, länglichen Kiste strich, war der König zuerst himmelaufjauchzend gestimmt, dann tief und romantisch gerührt. Am Schluss war der König außer sich vor Freude und gab ihm seine Tochter zur Frau. So kam die Geige in unsere Welt.«

   Wache 1: »Rührend! Das klingt so, als ob die Zigeuner mit einer Geige am Arm geboren werden.«

   Wache 2: »So ist es nicht! Du musst viel lernen und üben, wenn Du die Geige gut spielen willst.«

 

Lebensrettende Musik

   Django Reinhardt, der Sinti und Gitarrist (1910 - 1953), er gilt als der Pionier des europäischen Jazz, überlebte in Paris die Zeit der Nationalsoziaisten. Aufgrund der Beliebtheit seiner Musik bei der französischen Bevölkerung und bei den deutschen Besatzungsoffizieren wurde er nicht verfolgt beziehungsweise in ein KZ deportiert und dort umgebracht. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (8. Mai 1945) blieb er unbehelligt, hielt sich aber bedeckt.

 

   Wache 1: »Zigeuner, die viel lernen und üben, gibt es das?«

   Wache 2: »Weißt du, dass die Geige als das gefühlvollste Instrument gilt?«

   Wache 1: »Kann ich mir nicht vorstellen! Für mich ist die Gitarre, wenn sie am Lagerfeuer erklingt, das gefühlvollste Instrument. Übrigens, viele Zigeuner spielen Gitarre, keine Geige.«

   Wache 2: »Auch Klavier und andere Instrumente. Sie machen sogar mit dem Waschbrett Musik. Sie sind musikalisch, die meisten jedenfalls.«

   Wache 1: »Musik mit dem Waschbrett? Das kann nie und nimmer Musik sein, das ist Krach. Du musst Dich vom Lagerarzt mal untersuchen lassen. Dass Zigeuner auch Klavier spielen, das ist mir neu. Wie soll das gehen? Transportieren sie das Klavier in ihrem Planwagen durch die Gegend?«

   Wache 2: »Viele sind sesshaft.«

   Wache 1: »Ich war noch nie in einer Operette oder in einer Oper.«

   Wache 2: »Die Lieder über Zigeuner, die dort gesungen werden, die kennst Du sicherlich.«

   Wache 1: »Nicht dass ich wüsste.«

   Wache 2: »Du kennst sicherlich Komm Zigány, spiel mir ins Ohr, komm Zigány, zeig heut, was du kannst. 0 komm, o komm Zigány, spiel mir was vor, spiel bis mein Herz vor Freude tanzt. Ich geb’ dir alles, was du willst, wenn du nur schön spielst, wenn du meine Freuden, meine Schmerzen mit mir fühlst! Komm Zigány, spiel mir was vor, komm Zigány, spiel mir was ins Ohr!«

   Wache 1: »Ja, das habe ich schon gehört. Ich dachte, das ist ein entarteter Schlager.«

   Wache 2: »Das Lied heißt Komm Zigan. Es wird in der Operette Gräfin Mariza gesungen.«

   Wache 1: »Aha! Ich merke, deine Mutter war mit dir sehr oft bei Vorstellungen, in denen ein Zigan eine Rolle spielt. Ich weiß nicht, ob das so gut war.«

   Wache 2: »Wir waren auch in Opern und Operetten, in denen kein Zigan eine Rolle spielte. Da gibt es keine Einseitigkeit.«

   Wache 1: »Gut, ich bin beruhigt.«