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Asoziale Volksfremde

   Wachmänner des »Zigeunerlagers« im KZ Auschwitz-Birkenau unterhalten sich während ihres Wachdienstes. Es sind jeweils andere Wachmänner und Wachdienstzeiten.

   Wache 1: »Was hast du gestern am Abend noch gemacht?«

   Wache 2: »Im Radio, da habe ich mir einen interessanten Bericht über Asoziale angehört.«

   Wache 1: »Wir haben von denen jede Menge hier im Zigeunerlager, warum brauchst du da noch einen Bericht?«

   Wache 1: »Sie sollen nach dem Willen des Führers künftig nicht mehr Asoziale, sondern Gemeinschaftsfremde heißen.«

   Wache 1: »Das ist mir neu.«

   Wache 2: »Unser Führer ist der Meinung, dass Asoziale ein Schimpfwort ist, genauso wie Zigeuner, die zwar ihre Berechtigung und ihren Sinn haben, doch nicht zutreffend sind.«

   Wache 1: »Wie jetzt?«

   Wache 2: »Diese Schimpfwörter oder Begriffe haben keinen sachdienlichen Bezug. Sie vermitteln keine weiterführende Informationen. Verstehst du?«

   Wache 1: »Nein!«

   Wache 2: »Bei Gemeinschaftsfremde wird jedem Deutschen vermittelt, das sind Fremde, die gehören nicht zu unserem Volk. Sie gehören nicht zu unserer Gemeinschaft.«

   Wache 1: »Gemeinschaftsfremde? Fremde der Gemeinschaft, Fremde des deutschen Volks. Ja, das passt, doch das klingt viel zu vornehm.«

   Wache 2: »Es passt auch, weil es umfassender ist. Mit Gemeinschaftsfremde sind nicht nur Zigeuner, sondern auch all die anderen gemeint.«

   Wache 1: »Welche Anderen meinst Du genau?«

   Wache 2: »Jetzt stell dich nicht dümmer an, als du bist. Obdachlose, Wanderarbeiter, Bettler, Landstreicher, Faulenzer und schmarotzende Fürsorgeempfänger. Alle nach Zigeunerart herumziehende Landfahrer, sofern es keine Arier sind. Arier, die das Vagabundendasein für eine kurze Zeit ausprobieren wollen, sind ausgenommen.«

 

Aus dem 18. Jahrhundert

   Die Bezeichnungen »Sinti« und »Roma«tauchten im 18. Jahrhundert auf. Sinti steht für eine Menschengruppe, die seit dem ausgehenden Mittelalter in Mitteleuropa beheimatet ist. Roma bezeichnet eine Gruppe mit ost- oder südost-europäischer Herkunft. »Zigeuner« (andere Bezeichnungen: Gypsies, Gitanos, Gitans, Landstreicher, Landfahrer, Vagabunden) ist eine von Klischees überlagerte, rassistische Bezeichnung, die von Sinti und Roma abgelehnt wird. Sie haben sich niemals selbst so benannt. Die Bezeichnung basiert auf Vorurteilen und beinhaltet eine gesellschaftliche Ausgrenzung.

 

   Wache 1: »Entweder die im Radio oder Du - wichtige Personengruppen wurden vergessen. Was ist zum Beispiel mit diesen Bibelforschern?«

   Wache 2: »Zeugen Jehovas? Ich glaube, das sind keine Asozialen. Auch die Juden sind keine Asozialen. Im Radio sind sie darauf, wer genau zu den Asozialen gehört, nur am Rande eingegangen. In dem Bericht ging es hauptsächlich um Zigeuner, um asoziale Zigeuner. Wobei mir schon klar ist, dass das einen Widerspruch darstellt. Es gibt keine Zigeuner, die nicht asozial oder gemeinschaftsfremd sind.«

   Wache 1: »Ähm, ja? Zuhälter, Huren, überhaupt Kriminelle sind auch Asoziale.«

   Wache 2: »Richtig, auch sie sind bezogen auf unser Gemeinschaftswesen Fremde. Sie gehören nicht dazu. Ein mögliches Kennzeichen für gemeinschaftsfremde Familien soll künftig die Zahl der Kinder sein.«

   Wache 1: »Die Zahl der Kinder?«

   Wache 2: »Das basiert auf einen konkreten Fall. In Leipzig hat eine Zigeunerin mit zwölf Kindern einen besonderen Bonus von unserem Führer wollen. Du weißt doch, je mehr Kinder, desto höher der Kinderbonus und die Chance für die Mutter, das Ehrenkreuz der deutschen Mutter zu erhalten.«

   Wache 1: »Was? Die Zigeunerin hat das Ehrenkreuz der deutschen Mutter erhalten?«

 

Asoziales Verhalten

   Eine »asoziale Person« galt als arbeitsscheu, kriminell, unangepasst, gemeinschaftsfremd. In den Durchführungsrichtlinien zum Erlass »Vorbeugende Verbrechensbekämpfung« vom 14. Dezember 1937 hieß es: »Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will.« Mit Gemeinschaft war der nationalsozialistische Staat mit einem bestimmten Menschenbild gemeint. Roma und Sinti entsprachen diesem Menschenbild nicht. Sie galten deshalb als Asoziale.

 

   Wache 2: »Nein, beruhige dich! Sie wollte alle ihre Kinder unserem Führer schenken, dafür ein Geld bekommen. Natürlich wurde das abgelehnt. Ihr wurde gesagt, dass unser Führer und das deutsche Volk keine Zigeunerkinder wollen.«

   Wache 1: »Auf so eine Idee musst Du erst einmal kommen. Ich sage Dir, Zigeuner und Zigeunerinnen schrecken vor nichts zurück. Die Volksgemeinschaft interessiert sie nicht, sie wollen nur kassieren. Sie wollen keine Verantwortung übernehmen, das ist ja mit Aufgaben und Pflichten verbunden, da muss man ja arbeiten. Sie kümmern sich nur um sich selbst. Sie wollen aber, dass wir sie unterstützen, wegen des ach so armeseligen Lebens im kalten, zugigen Wagen. Sie fordern ganz frech, offen und unverschämt, dass die Fürsorge ihnen hilft.«

   Wache 2: »Manche der Sesshaften unter den Zigeunern übernehmen tatsächlich Arbeiten und Verantwortung, die der Volksgemeinschaft zugutekommen. Sie leisten sogar den Militärdienst ab.«

   Wache 1: »Dadurch verschaffen sie sich Vorteile, die wir nicht kennen. Sie müssen aussortiert werden, damit unser Volk gesunden kann. Ich sage Dir, wir lernen deren Vorteile kennen, wenn es für uns zu spät ist.«

   Wache 2: »Du übertreibst! Was können sie schon wollen, wenn sie friedlich mit uns zusammenleben, wenn sie sich uns anpassen?«

   Wache 1: »Eines Tages wirst auch Du aufwachen. Ich sage nur, ich sitze hier und bewache das Zigeunerlager, damit die das deutsche Volk nicht an der Nase herumführen können.«

   Wache 2: »Das machen die Juden, nicht die Zigeuner.«

 

Erweiterte Diskriminierung

   Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 basierte die Diskriminierung der Sinti und Roma vor allem auf sozialen und gesellschaftlichen Begründungen, danach kamen rassenpolitische dazu. Die staatlich angeordneten, antiziganistischen Maßnahmen richteten sich auch gegen die sesshaften Sinti und Roma. Die nationalistischen Medien, Polizeimeldungen und Kriminalstatistiken vermittelten der Öffentlichkeit eine »Zigeunerplage«, die bekämpft werden muss. Immer wieder wurde über die gesellschaftliche »Überflutung mit Zigeunern« informiert. Mit der Einrichtung der »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« im Reichskriminalpolizeiamt, wurde die Radikalisierung der Sinti und Roma-Verfolgung verschärft. Am 17. Oktober 1939 gab die Reichszentrale den »Festsetzungserlass« heraus, der Sinti und Roma einen Ortswechsel bei Androhung einer Einweisung in ein Konzentrationslager untersagte.

 

   Wache 1: »Das kann schon sein, doch vielleicht stecken die Juden und Zigeuner unter einer Decke? Wer weiß das schon! Ich jedenfalls mache meinen Dienst und passe auf, dass niemand aus dem Lager abhaut. Und ich vermeide es, im Lager zu sein. Ich will mit diesem Abschaum nichts zu tun haben.«

   Wache 2: »In dem Radiobeitrag haben sie tatsächlich auch auf die Juden hingewiesen.«

   Wache 1: »Ich wusste es!«

   Wache 2: »Sie sagten, dass die Vorgehensweise bei den Juden genauso wie die bei den Zigeunern sein wird. Erst werden die Juden aus unserem Volk entfernt, dann die Zigeuner. Wie die Juden werden die Zigeuner zuerst gesellschaftlich isoliert, sozusagen aus unserer Gesellschaft rausgeschmissen, danach folgt die Einweisung in ein Lager und Ende.«

 

Nächste Auslöschung

   Aufzeichnungen von Rudolf Höß, von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, bestätigen, dass »Zigeuner« nach Juden und russischen Kriegsgefangenen das »nächstfolgende Hauptkontingent« sei, das zu beseitigen wäre.

 

   Wache 1: »Mit den Juden sind wir noch nicht fertig und mit den Zigeunern haben wir noch nicht richtig begonnen.«

   Wache 2: »Richtig! Übrigens, die Zigeuner, die mit ihren Wagen unterwegs sind, was meinst du, wie verbringen sie den ganzen Tag? Meinst du, sie leben oberflächlich so dahin, leben in den Tag hinein, kümmern sich um nichts, singen, tanzen und musizieren den ganzen Tag?«

   Wache 1: »Vielleicht ist es so, vielleicht nicht! Auf jeden Fall, zwischendurch organisieren sie sich ihr Essen und Trinken durch den Verkauf von schlechter oder geklauter Ware oder mit dem Geld der Fürsorge. Noch nie habe ich so viele Asoziale, meinetwegen auch Gemeinschaftsfremde, auf einem Haufen gesehen wie bei uns im Zigeunerlager. Ich wusste nicht, dass wir im Reich so viele haben.«

   Wache 2: »Im Reich und in den eroberten Gebieten.«

   Wache 1: »Da sind auch Huren und Zuhälter darunter.«

 

Verschärfte Strafen

   Bei der Verfolgung von Straftaten wurden Sinti und Roma von der Polizei eher als Täter verdächtigt. Vorverurteilungen und »vorsorgliche Inhaftierungen« fanden statt, schwache Beweise reichten zur Tatüberführung, Verjährungsfristen wurden aufgehoben, Haftentlassungstermine hinausgeschoben. Bei zutreffender Straftat fiel das Strafmaß höher aus. Polizei und Richter handelten nach dem Prinzip: Unabhängig vom Vergehen, Hauptsache eine kräftige Strafe.

 

   Wache 2: » Ich glaube eher nicht. Jemand von der Kommandantur hat mir erzählt, dass einige Zigeuner da unten keine Hemmungen mehr kennen. Sie gehen davon aus, dass sie sterben werden, deshalb versuchen sie mitzunehmen was geht. Sie saufen, spielen und huren, ohne auf irgendetwas oder auf irgendjemand Rücksicht zu nehmen. Auch nicht auf die Kinder und die Alten.«

   Wache 1: »Die Kinder, die Alten, alle Zigeuner dürften das doch schon gewohnt sein. Sie leben doch schon immer zwischen Sodom und Gomorra.«

   Wache 2: »Andere beten, wiederum Andere schmieden Fluchtpläne. Das wurde mit in der Kommandantur auch gesagt.«

   Wache 1: »Fluchtpläne, die ich vereiteln werde.«

   Wache 2: »Sagen möchte ich noch, es gibt auch Deutsche mit vielen Kindern, die arm sind und dringend Geld brauchen. Nicht nur Zigeuner haben viele Kinder.«

   Wache 1: »Was hat das mit Zigeunern zu tun? Deutsche mit vielen Kindern können nicht Asoziale oder Gemeinschaftsfremde sein. Es sind Deutsche, und wenn sie durch viele Kinder oder durch Schicksalsschläge abrutschen sollten, hilft ihnen das Reich. Zigeuner können nicht abrutschen. Wohin wollen sie noch rutschen? Da ist nichts mehr.«

   Wache 2: »Du willst sagen, sie sind ab Geburt abgerutscht.«

   Wache 1: »Klar,dazu kommt,sie fressen Katzen, Hunde und Igel. Das sagt doch schon alles. Ich esse Zigeunerschnitzel.«

   Wache 2: »Ich nicht! Auf irgendetwas mit Zigeuner habe ich keinen Appetit mehr. Ich esse deutsch, schöne deutsche Gerichte.«