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Vor dem Gräberfeld

   Baggerfahrer: »Siehst du die alte Frau, die von einem Grabhügel zum anderen geht?«

   Totengräber: »Ja, ich beobachte sie schon die ganze Zeit.«

   Baggerfahrer: »Sie schaut sich die Beschriftungen auf den Kreuzen ganz genau an.«

   Totengräber: »Die Pappfetzen mit dem Namen der Toten auf den mit Dachlatten zusammengezimmerten Kreuzen. Wir hatten nichts anderes.«

   Baggerführer: »Nicht an allen Kreuzen hängt ein Pappfetzen.«

   Totengräber: »Wenn wir den Namen nicht wussten, haben wir nur ein Kreuz aufgestellt. Es kann aber auch sein, dass der Wind die Pappe weggeweht hat.«

   Baggerführer: »Die Frau geht jedes Mal ganz nah an ein Kreuz und liest den Namen. Sie sieht wohl sehr schlecht.«

   Totengräber: »Oder sie hat ihre Brille zu Hause vergessen.«

   Baggerführer: »Sie sieht sehr traurig und verzweifelt aus. Das Leben hat es bis jetzt nicht gut mit ihr gemeint.«

   Totengräber: »Schau, sie fängst sie von vorne an.«

   Baggerführer: »Ja, sie ist wieder an der ersten Gräberreihen und schaut sich die Namen auf den Kreuzen nochmals an. Sie will sicherlich wissen, ob ihr Sohn unter den Toten ist. Lebt er oder lebt er nicht? Sie ist verzweifelt.«

   Totengräber: »Vielleicht lebt er, doch sie glaubt an das schlimmste.«

   Baggerführer: »An seinen Tod und will jetzt Gewissheit haben.«

   Totengräber: »Ich glaube nicht, dass sie eine Mutter ist, die ihren Sohn sucht. Sie ist eine alte Frau, ihr Sohn müsste ungefähr sechzig Jahre alt sein. Ich glaube, sie sucht ihren Mann. Der bei einem Bombenangriff ums Leben kam. Oder aber, er wurde auf der Straße erschossen.«

   Baggerführer: »Viele alte Männer werden nicht einfach auf der Straße erschossen, sie kämpfen mit und sterben im Kampf. Ich kenne einige, die sechzig und älter sind und kämpfen. Ihr alter Sohn könnte ein Kämpfer sein - ein toter oder ein lebender Kämpfer.«

   Totengräber: »Richtig, nach dem Alter kannst du nicht gehen. Junge und Alte kämpfen.«

   Baggerführer: »Und Frauen!«

   Totengräber: »Ja, und Frauen und Jugendliche.«

   Baggerführer: Die Russen unterscheiden nicht, wer was ist. Sie schießen auf alles was sich bewegt. Sie fragen nicht, ob Zivilperson, ob Frau, Mann, Kind. Es interessiert sie nicht, wenn jemand von den eigenen Soldaten kontrolliert wurde und weitergehen darf, weil er harmlos ist. Sie schießen.«

   Totengräber: »Die Toten lassen sie auf der Straße liegen. Manche der Ermordeten waren mit dem Fahrrad unterwegs, ihr Rad lag neben ihnen. Ich sage dir, die Bilder aus Butscha sind an Grausamkeit nicht zu überbieten. Sie gehen unter die Haut.«

   Baggerführer: »Es gibt in der Ukraine inzwischen viele Butschas.«

   Totengräber: »In Häusern lagen auch gefesselte Männer und Frauen. Sie waren gefoltert worden, dann wurde ihnen in den Hinterkopf geschossen.«

   Baggerführer: »Über die Toten auf der Straßen sind auch Panzer gefahren.«

   Totengräber: »Panzer sind genauso über Autos gefahren, in denen noch Menschen saßen.«

   Baggerführer: »Flüchtlinge.«

   Totengräber: »Flüchtlinge oder nicht, Menschen - Ukrainer.«

   Baggerführer: »Man kann es nicht glauben oder sich vorstellen.«

   Totengräber: »Ja.«

   Baggerführer: »Hast du gehört, Putin hat die Toten in Butscha als Fake News bezeichnet. Nachdem die Russen weg waren, hätten wir Landsleute von uns erschossen und deren Leichen so postiert, damit es wie Morde an Zivilpersonen, von russischen Soldaten verübt, aussieht.«

   Totengräber: »Ich habe gehört, der Kreml behauptet, wir hätten, nachdem die Russen weg waren, im Kampf gefallene Kameraden lastwagenweise nach Butscha gebracht und dort auf den Straßen und in den Häusern verteilt.«

   Baggerführer: »Aus was für einem Gehirn können solche Behauptungen entspringen?«

   Totengräber: »Sie überraschen mich nicht! Was kann dieser selbsternannte Totengräber unserer Nation anders sagen? Ich hoffe mit allen Fasern meines Körpers, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Die Welt die Wahrheit erfährt. Putin mit seinen Knechten für den Krieg und all die begangenen Gräueltaten bestraft werden.«

   Baggerführer: »Knechte? Es sind seine Schlächter! Ich hoffe nicht, ich glaube ganz fest daran, dass er und seine Schlächter eines Tages für ihre Taten büßen müssen. Ich muss ganz fest daran glauben, sonst werde ich verrückt.«

   Totengräber: »Ja, nachdenken darfst du nicht, sonst wird du verrückt.«

   Baggerführer: »Es gibt inzwischen mehrere Erkenntnisse, die mich bestärken. Satellitenbilder von Butscha beweisen, dass die Toten auf den Straßen schon lagen als die Russen das Gebiet noch beherrschten. Zeugen bestätigen die russischen Gräueltaten. Zudem wurden Massengräber entdeckt, die alles belegen - die Brutalität, die Unmenschlichkeit, die Verbrechen an der Menschlichkeit. Internationale Ermittler für Menschenrechte und Kriegsverbrechen haben schon ihre Arbeit aufgenommen.«

   Totengräber: »Die Russen haben viele der von ihnen Ermordeten auch verscharrt, in Massengräbern. Schon etliche solcher Gräber wurden entdeckt.«

   Baggerführer: »Warum haben sie einige begraben und einige nicht, auf der Straße einfach liegen gelassen?«

   Totengräber: »Bei einem Massengrab möchte ich nicht von begraben sprechen. Sie haben die Toten verscharrt, entsorgt. Ich weiß nicht wie die denken.«

   Baggerführer: »Vielleicht war ihnen das Ausheben von großen Erdlöchern und das Hinwerfen der Toten irgendwann zu anstrengend.«

   Totengräber: »Sie haben versucht, ihre Massengräber unkenntlich zu machen.«

   Baggerführer: »Wir finden sie alle! Sie können ihre Massengräber nicht vertuschen! Wir decken ihre Verbrechen auf - alle!«

   Totengräber: »Leider müssen wir jetzt auch Massengräber ausheben. Sie zwingen uns dazu. Durch sie sterben viele, viele Ukrainer. Sie können wir während des Kriegs nicht mehr einzeln begraben.«

   Baggerführer: »Ja.«

   Totengräber: »Vielleicht später einmal, wenn wir über die Vermisstenlisten die Namen kennen und DNA-Abgleiche machen können. Doch jetzt müssen wir sie begraben, in Massengräbern, damit die Hunde nicht an sie gehen.«

   Baggerführer: »Machen wir weiter! Ich baggere das Loch in Längsrichtung aus, du wirfst die schwarzen Plastiksäcke rein. Danach schaufle ich mit dem Bagger alles zu.«

   Totengräber: »Hoffen wir, dass der Sohn oder der Mann der alten Frau nicht darunter ist. Sie sieht sehr traurig und verzweifelt aus.«