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Verhöre der Anderen

   Kriminalkommissar: »Die letzten drei Tage habe ich nichts anderes gemacht, als russische Gefangene zu verhören.«

   Polizist: »Von uns gefangene russische Soldaten.«

   Kriminalkommissar: »Sie haben gemeint, ich bin vom Fach, ich soll sie verhören.«

   Polizist: Bist du ja auch.«

   Kriminalkommissar: »Es ist ein großer Unterschied, ob du Verdächtige, Verbrecher oder gefangene Soldaten verhörst.«

   Polizist: »Schon, doch im Prinzip musst du nur alle zum Sprechen bringen, oder?«

   Kriminalkommissar: »Manche Soldaten sagen nichts, manche reden wie ein Buch. Sie sagen dir vieles, was du überhaupt nicht hören möchtest.«

   Polizist: »Wenn sie ihre Stellungen, Bewegungen, Soldatenstärke, Bewaffnungen, militärische Pläne verraten, da sollen sie doch reden wie ein Buch. Das will man bei Verhören schließlich erreichen.«

   Kriminalkommissar: »Das ist nicht das Problem. Doch das ist auch ein Problem. Die meisten beantworten militärische Fragen nicht oder nur eingeschränkt, also teilweise. Doch aus den einzelnen Teilaussagen kannst du dir schon ein Bild machen.«

   Polizist: »Foltert ihr?«

   Kriminalkommissar: »Bei mir wird nicht gefoltert. Aber wo beginnt und endet Folter? Wenn wir nichts zu essen haben, was einige Mal vorgekommen ist, haben die Gefangene auch nichts zu essen. Wenn wir unsere Verwundeten nicht versorgen können, dann werden deren Verwundete auch nicht versorgt. Durch Schläge, Elektroschocks, Schlafentzug, Marathonverhöre erzwungene Aussagen gibt es bei mir nicht.«

   Polizist: »Die anderen sind nicht so nett. Sie foltern unsere Leute, die schreien tagelang, nächtelang vor Schmerzen, qualvoll, für alle anderen Gefangenen unüberhörbar. Dann lassen sie einige von uns frei - Verletzte, Alte, die für den Kampf nicht mehr taugen. Die Freigelassenen berichten über die brutalen Folterungen und schüren damit die Angst unter unseren Leuten, weiterzukämpfen und in russische Gefangenschaft zu geraten.«

   Kriminalkommissar: »So etwas machen wir nicht. Aber ich weiß nicht, ob wir wirklich netter sind. Es ist Krieg!«

   Polizist: »Was sagen dir die russischen Gefangenen, was du nicht hören willst?«

   Kriminalkommissar: »Es sind die Menschen, viele sind sehr jung, zwischen achtzehn und Anfang zwanzig. Sie haben vom Leben noch nichts gesehen. Sie wissen nichts, sie wurden in diesen Krieg hineingeworfen. Sie erzählen von wo sie herkommen, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wieviel Geschwister sie haben, welche Schule sie besuchten. Sie erzählen über ihre Interessen und was sie einmal werden möchten. Alle wollen irgendwann eine Familie gründen.«

   Polizist: »Warum willst du das nicht wissen? Vielleicht kannst du da etwas Brauchbares heraushören.«

   Kriminalkommissar: »Ich lasse sie reden, höre zu und denke oft, ein junger Ukrainer sitzt mir gegenüber. Das zieht dich runter.«

   Polizist: »Es sind unsere Gegner! Sie haben uns angegriffen. Sie haben auf unserer Seite viele Tausende von Soldaten und Zivilisten getötet. Sie haben brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Es sind Kriegsverbrecher.«

   Kriminalkommissar: »Das vergesse ich nicht.Unter ihnen sind auch brutale Kriegsverbrecher. Manche durch Verblendung, manche aus Überzeugung.«

   Polizist: »Ein verblendeter Kriegsverbrecher ist ein Fanatiker. Er weiß was er tut und meint, das richtige zu tun, zum Beispiel Frauen und Kinder oder Unbewaffnete zu erschießen. Richtig?«

   Kriminalkommissar: »Ja, so kann man es sagen. Ich hatte einen im Verhör, er sagte, dass der Krieg für die Zivilbevölkerung sehr human sei. Auf fünf getötete Soldaten käme ein getöteter Zivilist. Er nannte das beispielhaft, in den bisherigen Kriegen wäre so etwas noch nie vorgekommen. Der Anteil an getöteten Zivilisten wäre immer viel höher gewesen. Für ihn wäre das gute Verhältnis der Verdienst der russischen Soldaten, die sehr präzise vorgingen.«

   Polizist: »Ein beispielhafter Krieg? Wenig getötete Zivilisten? Ich hätte ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen.«

   Kriminalkommissar: »Das bringt nichts. Solche Informationen tröpfeln sie in die Gehirne ihrer Soldaten. Wie können die jungen Soldaten sich wehren? Mit was? Sie haben keinerlei Freiraum. Sie müssen gehorchen, linientreu sein.«

   Polizist: »Wenn sie nicht gehorchen, ergeht es ihnen sehr schlecht, ich weiß.«

   Kriminalkommissar: »Die Jungen, wie Schlachtvieh wurden sie auf uns losgelassen. Einige meinten, tatsächlich auf eine Art Urlaubsreise mit Abenteuerprogramm für einen guten Zweck zu sein. Erst nach und nach merkten sie, dass es eine Reise auf Leben und Tod ist - die Reise in den Krieg. Viele wachten erst auf, als sie in unsere Maschinengewehrsalven hineinliefen und ihre Kameraden getötet wurden. Oder als ihre Kameraden in Panzern verbrannten.«

   Polizist: »Wie können in der heutigen Zeit Menschen in Europa so dumm und naiv sein?«

   Kriminalkommissar: »Einer sagte, dass die russischen Raketen millimetergenau ihre Ziele erreichen würden. Sie würden nur die zivilen Einrichtungen zerstören, Hospitale, Kindergärten, Wohnhäuser, Friedhöfe, in denen wir Waffen und Munition versteckt hätten.«

   Polizist: »Sie wissen wo wir Waffen und Munition versteckt haben, ganz klar. Wir veröffentlichen unsere Verstecke im Internet. Sie wissen gar nichts! Sie ballern einfach drauflos!«

   Kriminalkommissar: »Wir würden auch auf Friedhöfen Waffen und Munition verstecken.«

   Polizist: »Natürlich, nachts verbuddeln wir dort alles, pflanzen dann jede Menge Blumen, damit die Lager von Friedhofsbesuchern nicht entdeckt werden. Brauchen wir die Waffen, buddeln wir sie aus. Das ist ein ganz einfaches Verfahren. Das ist die Kriegslist aller Kriegslisten. Das reicht an kein Versteck in einem Tunnel oder Bergwerk heran.«

   Kriminalkommissar: »Ein anderer sagte, dass er hier ist, um die Ukraine von den Nazis zu befreien. Die Nazis seien überall, sie hätten die ganze Ukraine in ihrer Gewalt. Für die Befreiung sei es notwendig, die Nazis und ihre Nachkommen zu beseitigen. Das wäre eine emotional sehr belastende, aber unumgängliche Vorgehensweise.«

   Polizist: »Er hat zugegeben, Kinder getötet zu haben?«

   Kriminalpolizei: »Nein, er wäre immer nur im Einsatz an der Front gewesen. Er hätte immer nur gegen ukrainische Soldaten gekämpft. Sofort danach sagte er auch, dass er niemand kennt, der auf Kinder oder Zivilisten geschossen hat.«

   Polizist: »Hast du ihm geglaubt?«

   Kriminalkommissar: »Ich wusste nicht, was ich glauben soll. Ich weiß es heute immer noch nicht. Er war erst neunzehn Jahre alt.«