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                                  START         Jo Specht                                                                             

Sie schlafen nur

   Danylo: »Meiner kleinen Tochter habe ich gesagt, dass die Toten auf dem Platz Männer und Frauen sind, die sich zum Schlafen einfach auf den Boden gelegt haben.«

   Yegor: »Hat sie es geglaubt?«

   Danylo: »Ich hoffe es! Dabei habe ich auf die zerstörten Häuser gezeigt und ihr gesagt, dass die Leute, die in den Häuser wohnten, im Moment kein Zuhause und kein Bett haben, deshalb auf der Straße schlafen müssen. Nur vorübergehend, bald wird für sie alles wieder gut sein.«

   Yegor: »Zwischen Schlafenden und Toten gibt es aber schon einen gewaltigen Unterschied, besonders …«

   Danylo: »Sie waren mit weißen Tüchern zugedeckt.«

   Yegor: »Mit blutbefleckten weißen Tüchern?«

   Danylo: »Die Tücher der Toten, an denen wir vorbeigingen, waren gottlob nicht blutbefleckt.«

   Yegor: »Bei uns war viel Blut zu sehen. Meine Tochter war geschockt. Sie sagte nichts, kein Laut kam von ihr. Als wir Zuhause waren, saß sie teilnahmslos auf einem Stuhl und starrte auf eine Zimmerwand. Nach einigen Minuten begann sie zu weinen. Es war nicht wirklich ein Weinen, es war ein Schreikrampf.«

   Danylo: »Wo ward ihr? Waren es frisch Gefallene?«

   Yegor: »Frisch Gefallene, das klingt harmlos und respektlos.«

   Danylo: »Du weißt wie ich es meine.«

   Yegor: »Ich glaube ja. Es waren Frauen und Männer, aber vor allem Frauen. Eine Granate muss sie getötet haben - getötet und ihre Körper zerrissen. Körperteile lagen herum, überall Blut, nichts war abgedeckt.«

   Danylo: »Verständlich, dass deine Tochter geschockt war.«

   Yegor: »Traumatisiert! Ich habe gelernt, dass ein Schock meist schnell vorübergeht. Bei jemanden, der traumatisiert ist, dauert es viel länger. Der Weg zurück in ein normales Leben ist viel schwieriger.«

   Danylo: »Normales Leben, wann soll das sein?«

   Yegor: »Hoffentlich bald, am besten heute noch - blöde Frage!

   Danylo: »Nach den Toten, die mit weißen Tüchern zugedeckt waren, kamen wir an einen Leichenberg vorbei. Die Leichen waren in schwarzen Plastiksäcken. Meine Kleine verstand nicht, dass das Tote in Leichensäcke waren.«

   Yegor: »Gut so!«

   Danylo: »Die Leichensäcken wurden gerade auf einen Lastwagen geladen.«

   Yegor: »Sie bringen sie aus der Stadt und werfen sie in ein Massengrab. Mit Beerdigungen kann sich niemand mehr aufhalten.«

   Danylo: »Sie schießen Raketen auch auf unsere Friedhöfe, zerstören Gräber.«

   Yegor: »Davon habe ich gehört. Ich will nicht wissen, was in deren Köpfen vorgeht. Es ist verrückt! Welche Bedrohungen gehen von unseren Friedhöfen aus?«

   Danylo: »Wie geht es deiner Tochter jetzt?«

   Yegor: »Immer noch traumatisiert. Wie gesagt, es dauert eine ganze Weile bis jemand aus so einem Loch herauskommt.«

   Danylo: »Hilft ihr jemand, außer du und deine Frau?«

   Yegor: »Da ist sonst niemand. Wir haben Krieg und …«

   Danylo: »Keine Verwandten in der Nähe?«

   Yegor: »Nein!«

   Danylo: »Ist es eine gute Idee, wenn wir deine und meine Tochter zusammenbringen? Vielleicht freunden sie sich an.«

   Yegor: »Im Keller hat sie schon Kontakt mit anderen Kindern, doch es sind nicht ihre Freundinnen. Die sind auch in Kellern, ich weiß nicht in welche, oder sie sind mit ihren Eltern geflohen.«

   Danylo: »Handy?«

   Yegor: »Die Verbindungen klappen nicht - warum auch immer. Ich denke, die Nummern sind falsch.«

   Danylo: »Es spricht alles dafür, dass meine Tochter in nächster Zeit auch Tote und Blut sehen wird. Meine Frau und ich müssen sie darauf vorbereiten, aber wie?«

   Yegor: »Lass sie im Keller, lass sie nicht raus. Im Keller ist sie geschützt. Wenn alles vorbei ist, sie alt genug ist, kannst du ihr alles erklären.«

   Danylo: »Sie will raus, sie will sich bewegen, sie will ihre Freundinnen treffen.«

   Yegor: »Ich habe mir schon größte Vorwürfe gemacht, ich hatte mit ihr den Keller verlassen. Hätte ich das nicht gemacht, hätte sie die Toten, die Menschenteile und das Blut auf dem Asphalt nicht gesehen.«

   Danylo: »Die Kinder sollten nicht wissen, dass solche Bilder mittlerweile zu unserem Alltag gehören.«

   Yegor: »Ja, ja! Sage mir lieber wie ich das verhindern kann.«