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                                  START         Jo Specht                                                                             

Schützender Baum

   Förster: »Du musst die Geschichte über die Bäume und ihre Spuren auf der Erde umschreiben.«

   Journalist: »Nur weil ich bei der Zeitung arbeite, soll ich etwas umschreiben? Schreiben kann jeder, etwas Bestehendes umschreiben auch. Ich berichte über den Krieg, da habe ich genug zu schreiben.«

   Förster: »Die Geschichte muss neu geschrieben werden. In ihr muss der Krieg ebenfalls eine Rolle spielen.«

   Journalist: »Ah? Was für ein Geschichte über die Bäume und ihre Spuren auf der Erde ist das denn?«

   Förster: »Du willst sie hören? Soll ich sie dir erzählen, jetzt?«

   Journalist: Die anderen schießen gerade nicht. Bis sie wieder losgeht, so lange kannst du sie erzählen.«

   Förster: »Im Himmel treffen sich verschiedene Bäume und unterhalten sich über ihr Leben und über ihre Hinterlassenschaften auf der Erde.«

   Journalist: »Ein Märchen!«

   Förster: »Vielleicht, höre zu. Zuerst erzählen die Bäume über ihre jeweilige Zeit im Wald, Park, Garten, auf der Wiese und am Straßenrand. Der Baum aus dem Wald sagt voller Tatkraft und Energie, dass er sich anfangs gegen die Konkurrenz hart zur Wehr setzen musste. Alles wollten mehr von der Sonne abbekommen, doch allein er hat es geschafft, die anderen zu übertrumpfen. Er war der mächtigste und stärkste Baum, die anderen Bäume um ihn herum mussten sich mit einem Leben in seinem Schatten, das nur manchmal durch einige Sonnenstrahlen unterbrochen wurde, zufrieden geben. Eines Tages haben ihn die Menschen gefällt und aus seinem Holz Balken für ein Haus gemacht. Das Haus gibt es immer noch, es wird noch lange, lange bestehen, da ist er sich sicher, denn die Balken sind groß und sehr stabil. Schließlich sind es Balken aus seinem Holz.«

   Journalist: »Ein Baum, der sich freut als Hausbalken zu enden, interessant.«

   Förster: »Der Baum aus dem Park erzählt, dass er viele Spaziergänger mit seinen vielen Ästen und Blättern, mit seinem Grün und seiner stattlichen Erscheinung erfreut hat. Viele haben sich in seinem Schatten ausgeruht, Ruhe und Erholung gefunden, Liebespaare nutzen ihn als Sichtschutz und ritzen Herze in seinen Stamm. Eines Tages haben ihn die Menschen gefällt und einen Schrank aus seinem Holz gemacht. Voller Stolz sagt er, dass es den Schrank immer noch gibt, schon in der dritten Menschengeneration, und die Menschen aufgrund seines stabilen, schönen Holzes immer noch sehr zufrieden sind.«

   Journalist: »Klar, jeder Baum freut sich, wenn aus ihm ein Schrank wird.«

   Förster: »Der Baum aus dem Garten sagt, dass er der Liebling der Kinder war. An einem Ast hing eine Kinderschaukel, zwischen den Ästen befand sich ein Baumhaus, das die Kinder über eine Strickleiter erreichten. Neben seinem Stamm wurden oft Kinderwagen abgestellt, die schlafenden Babys schützte er vor der Sonne. Eines Tages haben ihn die Menschen gefällt und ein Schaukelpferd aus seinem Holz gemacht. Auf dem Schaukelpferd reiten immer noch viele Kinder und manchmal auch Erwachsene, die sich an ihre Kindheit erinnern.«

   Journalist: »Erwachsene reiten auf dem Schaukelpferd in die Freiheit, ganz weit weg vom Krieg. Ja, das ist realistisch.«

   Förster: »Du bist zynisch.«

   Journalist: »Wann soll wo was umgeschrieben werden?«

   Förster: »Das kommt noch, höre einfach zu. Der Baum von der Wiese berichtet, dass er das Paradies für die Vögel und Insekten war. Viele Vögel bauten in seinem Geäst Nester, viele junge Vögel machten aus seinem Geäst heraus ihre ersten Flugversuche. Tausende von Insekten wohnten hinter seiner Rinde. Darüber freuten sich die Vögel besonders, sie mussten nicht weit fliegen, um Nahrung zu finden. Sie pickten die Insekten aus den Ritzen. Eines Tages haben ihn die Menschen gefällt und einen Tisch aus seinem Holz gemacht. Den Tisch gibt es heute noch, nach wie vor steht er ganz fest da, er wackelt nicht.«

   Journalist: »Ein Baum aus dem ein Tisch wird, der nicht wackelt, ja da freut sich der Baum - natürlich.«

   Förster: »Der Baum vom Straßenrand sagt, dass er auch ein Paradies für Vögel und Insekten war. Die Vögel freuten sich, da keine andere Tiere kamen, um ihre Eier aus den Nestern zu holen oder sie um selbst zu fressen. Die anderen Tiere fürchteten die Menschen, den Verkehr, die Stadt. Eines Tages war alles plötzlich vorbei. Der Baum hat keine Menschen gesehen, die ihn gefällt haben, dennoch lag er gefällt auf der Straße, um ihn herum viele tote Vögel. Auf der Straße fuhren keine Autos mehr. Der Baum lag auf der Straße, hinter ihm lagen Menschen mit Gewehren. Die Menschen nutzen ihn als Schutz und Barriere. Der Baum sagt zu den anderen Bäumen, dass er, sein Holz, keinen Tag diese Funktionen erfüllen möchte.«

   Journalist: »Eine Granate hat den Baum und seine Bewohner getötet, die Menschen haben mit seinem Stamm eine Straßenbarriere errichtet. Ist das schon der neue, kriegsbezogene Teil der Geschichte? Da muss doch nichts mehr umgeschrieben werden.«

   Förster: »Du könntest die Geschichte etwas ausschmücken.«

   Journalist: »Ich könnte schreiben, wie wichtig sein Holz für die Barriere und für den Schutz unserer Kämpfer war.«

   Förster: »Ich weiß nicht. Der Wunsch des einstigen Straßenbaums ist doch das Wichtigste.«

   Journalist: »Ja, um des Frieden Willen schnellstens weg von der Straße.«

   Förster: »Achtung, sie schießen wieder.«