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Mein Landsmann

   Ukrainer: »Von woher kommst du?«

   Russe: »Ist das wichtig?«

   Ukrainer: »Ich frage nur. Nein, das ist nicht wichtig.«

   Russe: »Lass uns übers Essen sprechen. Ich habe Hunger.«

   Ukrainer: »Essen ist gut! Wir werden wieder so einen Fraß bekommen. Aber ich will mich nicht beklagen. Scheiß Krieg!«

   Russe: »Scheiß Krieg! Gestern gab es eine Suppe, in der undefinierte Teile schwammen.«

   Ukrainer: »Ich hatte sie auch! Sie stillte den Hunger. Das ist das wichtigste.«

   Russe: »Ich habe noch etwas Brot und eine luftgetrocknete Wurst. Wir können teilen.«

   Ukrainer: »Wurst? Schon lange habe ich keine Wurst mehr gegessen. Einmal gab es so etwas wie Fleisch, doch ich glaube, das waren weichgekochte Schuhsohlen.«

   Russe: »Muss fürchterlich geschmeckt haben.«

   Ukrainer: »Her mit der Wurst und dem Brot!«

   Russe: »Hier nehme dir etwas, genieße sie, ich beobachte die Straße.«

   Ukrainer: »Richtig, wir dürfen die Straße keine Sekunde aus den Augen lassen. Unsere Position müssen wir halten. Von hier hast du den besten Überblick. Das wissen die anderen auch. Gestern haben sie zwei Wachkameraden getötet.«

   Russe: »Ich weiß!«

   Ukrainer: »Diese hinterhältigen Saboteure. Sie ziehen unsere Uniform an und tarnen sich als ukrainische Soldaten. Sind sie nahe genug, schießen sie oder werfen Handgranaten. Unsere Kameraden sollen total überrascht gewesen sein.«

   Russe: »Ja, das waren sie.«

   Ukrainer: »Ein hinterhältiges Pack! Ich habe gehört, alle sind entkommen.«

   Russe: »Ja.«

   Ukrainer: »Die Wurst schmeckt herrlich! Von wo kommt sie?«

   Russe: »Sie besteht aus Wildfleisch, aus Schwarzwildfleisch.«

   Ukrainer: »Deine Leute haben dir die Wurst geschickt, eh?«

   Russe: »Meine Familie, ja.«

   Ukrainer: »Deine Familie lebt in der Ukraine, dort wo noch kein Krieg herrscht. Dort wo man noch so gute Wurst machen kann.«

   Russe: »Überall herrscht die Angst vor dem Krieg.«

   Ukrainer: »Richtig, sie schießen mit ihren Raketen überall hin. Auch in die entlegensten Orte. Niemand soll sich sicher fühlen, das ist deren Taktik. Sie wollen, dass wir alle Angst haben, egal wo wir in der Ukraine gerade sind.«

   Russe: »Ja.«

   Ukrainer: »Immerhin lebt deine Familie in einem Ort, wo solch vortreffliche Wurst gemacht wird. Sie schmeckt sehr gut, geradezu himmlisch.«

   Russe: »Ich war gestern auch hier, während des Überfalls. Also nicht direkt hier, ich war austreten als der Überfall passierte.«

   Ukrainer: »Was?«

   Russe: »Die Schüsse habe ich gehört. Als ich zurückkam war alles zu spät.«

   Ukrainer: »Du warst hier? Du hast die Mörder gesehen?«

   Russe: »Nein, sie waren schon weg als ich zurückkam.«

   Ukrainer: »Weißt du was mir seltsam vorkommt? Sie töten die Wachen, dich nicht, doch statt diesen Posten zu besetzen, hauen sie ab?«

   Russe: »Warum richtest du dein Gewehr auf mich?«

   Ukrainer: »Du bist einer dieser heimtückischen Mörder - ein Saboteur, ein Spion. Gestern ist wohl irgendetwas schief gelaufen, deshalb bist du heute hier, um das Werk zu vollenden. Du willst mich töten!«

   Russe: »Nein, das stimmt nicht! Das will ich nicht!«

   Ukrainer: »Das normalste der Welt wäre gewesen, wenn du nach dem gestrigen Erlebnis nicht mehr auf diesem Wachposten sein wolltest. Das hätte jeder verstanden. Doch du bist hier, gerade mal einen Tag später.«

   Russe: »Jeder wird gebraucht, Erholungszeiten gibt es nicht.«

   Ukrainer: »Deine Wurst hat dich verraten. Der Verpackung nach kommt sie aus Russland. Ich kann mich nicht erinnern, solch eine Wurst bei uns im Supermarkt oder sonst wo gesehen zu haben. Sag, wann wolltest du mich töten!«

   Russe: »Ja, ich bin ein Russe und die Wurst kommt aus Russland. Nein, ich will dich nicht töten! Meine Familie ist zu Verwandten in Russland geflohen. Meine Familie und ich leben schon seit fast zwanzig Jahren in der Ukraine. Wir wollen, dass die Ukraine so bleibt wie sie vor dem Krieg war. Dafür kämpfe ich an der ukrainischen Seite. Der Krieg ist ein großes Unrecht!«

   Ukrainer: »Klar, deshalb flieht deine Familie ins Heimatland. Ihr befürchtet die Rache der Ukrainer. Du bist hiergeblieben, um uns auszuspionieren, um uns zu töten, du und deine russischen Freunde.«

   Russe: »Meine Familie und ich sind auf der Seite der Ukraine.«

   Ukraine: »Sie in Russland und du hier, natürlich. Du hast den Überfall gestern als einziger überlebt, unverletzt. Ich glaube dir nicht! Du warst nicht zufällig austreten, du hast dich ganz bewusst verdünnisiert.«

   Russe: »Ich war austreten, zufällig! Nicht mehr und nicht weniger. Du machst einen großen Fehler, wenn du mich erschießt.«

   Ukrainer: »Steh auf, so dass dich deine russischen Freunde sehen.«

   Russe: »Sie werden mich erschießen. Irgendwo da draußen lauern Scharfschützen.«

   Ukrainer: »Seit wann erschießen Freunde ihre Freunde?«

   Russe: »Ich habe unserer ukrainischen Kommandantur über den Überfall berichtet. Sie haben mir geglaubt! Niemand fand es seltsam, dass ich heute wieder auf dem Posten bin - genau hier!«

   Ukrainer: »Wie lief es ab?«

   Russe: »Sie kamen mit einem Auto auf dem groß Presse stand. Sie hielten, eine Frau stieg aus, die zwei Männer im Auto blieben sitzen. Plötzlich schossen die zwei Männer, dann die Frau auch.«

   Ukrainer: »Woher weißt du das wenn du nicht dabei warst, nichts gesehen hast?«

   Russe: »Ein sterbender Kamerad konnte es mir noch sagen.«

   Ukrainer: »Bleib wo du bist!«

   Russe: »Ah …«

   Ukrainer: »Was ist mit dir los? Was machst du! Ich schieße! Scheiße, du blutest! Du bist getroffen! Das waren deine Freunde. Du bist ja tot! Oh Mann, sie haben ganze Arbeit geleistet. Was mache ich jetzt, alleine? Was hast du in der Hand? Eine Handgranate? Ein Bild! Ein Bild mit einer Frau und zwei kleine Mädchen? Ist das deine Familie, deine russische Familie? Im Hintergrund die ukrainische Flagge? Warum? Hast du die Wahrheit gesagt? Die Wahrheit, wirklich? - Ich glaube, im Herzen warst du tatsächlich ein Ukrainer! Ich habe dich verkannt. Bitte verzeihe mir! Hörst du, verzeihe mir!«