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                                  START         Jo Specht                                                                             

Die Straße fegen

   Soldat: »Warum fegst du die Straße?«
   Hausmeisterin: »Ich fege den Gehsteig, nicht die Straße. Auf der Straße fahren Autos, jetzt auch Militärlastwagen und Panzer. Die Straße reinigen andere.«

   Soldat: »Warum fegst du? Für wen? Für die Nachbarn?«

   Hausmeisterin: »Für mich, für meine Mieter im Haus. Ich fühle mich wohler, wenn es sauber und ordentlich ist.«

   Soldat: »Den Schutt, die Glassplitter, den Staub, den ganzen Dreck, das alles kriegst du mit deinem Besen niemals weg.«

   Hausmeisterin: »Ich fege so weit wie ich komme. Natürlich bekomme ich nicht alles weg.«

   Soldat: »Der Schutt ist vom Nachbarhaus?«

   Hausmeisterin: »Das ist doch offensichtlich. Es war eine Rakete. Das Dach und die Fassade des oberen Stocks sind beschädigt. Alle Fensterscheiben sind zerbrochen. Teile der Fassade und der Fensterscheiben sind bis auf meinen Gehsteig geflogen.«

   Soldat: »Jeden Tag kann eine Rakete auch dein Haus treffen.«

   Hausmeisterin: »Ich weiß!«

   Soldat: »Wird dein Haus getroffen, kannst du mit deinem Besen überhaupt nichts mehr machen.«

   Hausmeisterin: »Ich fege, solange ich fegen kann. Ich habe diesen Krieg nicht gewollt.«

   Soldat: »Niemand hat den Krieg gewollt.«
   Hausmeisterin: »Warum haben wir ihn dann? Es ist der Krieg der Reichen und Politiker, bei uns und in Russland. Es ist nicht der Krieg der Ukrainer und der Russen. Wir haben uns mit den Russen immer gut vertragen.«

   Soldat: »Es ist ein ungerechter Krieg, den die Russen …«

   Hausmeisterin: »Welcher Krieg ist gerecht? Du bist Soldat, du hast mehr Einblick. Bitte sage mir, welcher Krieg ist gerecht?«

   Soldat: »Das kann ich dir nicht sagen. Ich kann nur sagen, jeder hat ein Recht auf Verteidigung. Die Russen haben uns angegriffen, wir verteidigen uns.«

   Hausmeisterin: »Warum haben sie uns angegriffen?«

   Soldat: »Da gibt es viele Gründe. Ich glaube sie alle nicht.«

   Hausmeisterin: »Du bist ein Soldat, du kämpfst doch. Für was kämpfst du?«

   Soldat: »Für Freiheit! Ich will nicht, dass wir ein Vasallenstaat von Russland werden. Ich will nicht nach der russischen Pfeife tanzen müssen.«

   Hausmeisterin: »Was ist ein Vasallenstaat.«

   Soldat: »Wenn wir nicht mehr selbst bestimmen können, wenn die Russen uns sagen, was wir machen sollen.«

   Hausmeisterin: »Das will ich auch nicht. Doch ich glaube, in dem Krieg geht es nicht nur um Freiheit, sondern auch um Geld und Macht. Ich will nur mein Leben leben. Also das machen können, was ich wie immer mache. Deshalb fege ich, denn ich fege immer den Gehsteig und ich sorge immer für das Haus.«

   Soldat: »Das ist egoistisch!«

   Hausmeisterin: »Was, egoistisch? Ich fege den Gehsteig und du sagst, ich bin egoistisch, ich - weil ich fege? Das ist unverschämt! Scher dich weg!«

   Soldat: »Liebe Frau, du denkst nur an dich. Hier im Ort, in vielen ukrainischen Orten sterben Menschen für die Freiheit von uns allen. Gerade hast du bestätigt, dass du auch frei sein willst, dir von Russen nicht sagen lassen willst, was du zu tun und zu lassen hast. Das bedeutet, die Macht über uns müssen wir behalten. Doch statt dich für die Allgemeinheit, für das Volk nützlich zu machen, fegst du die Straße, nein, den Gehsteig. Du lebst in deiner kleinen Welt und die willst du dir bewahren. Doch mit Fegen erreichst du das nicht. Deine kleine Welt ist ein Teil der großen ukrainischen Welt, die zu verteidigen ist - jetzt!«

   Hausmeisterin: »Lass mich in Ruhe. Ich mache meine Arbeit, die muss auch gemacht werden.«

   Soldat: »Deine Arbeit ist nutzlos! Du solltest stattdessen im Rettungsdienst oder im Krankenhaus mithelfen. Da würdest du etwas nützliches machen.«

   Hausmeisterin: »Dort sind schon viele, die sich verdient machen wollen. Die brauchen mich nicht. Ich halte meine Sachen in Ordnung, so gut es eben geht, und fertig.«

   Soldat: »Siehst du, das ist egoistisch. Wir müssen zusammenstehen! Jeder muss jedem helfen! Auch du bist gefordert!«

   Hausmeisterin: »Im Haus leben fünf Familien, für die ich verantwortlich bin. Die Ordnung darf nicht zusammenbrechen. Wenn überall die Ordnung zusammenbricht, dann ist alles verloren.«

   Soldat: »Im Krankenhaus herrscht auch eine Ordnung. Wenn die zusammenbricht, sterben Menschen. Wenn deine Hausordnung zusammenbricht, stirbt niemand.«

   Hausmeisterin: »Doch, aber dann hat eine Rakete das Haus getroffen und wir alle im Haus sind tot.«